Zagreb in den Stunden vor dem Angriff

■ In den Stunden vor den ersten Angriffen der Bundesarmee machten sich die Einwohner der kroatischen Hauptstadt Zagreb Mut, nachdem sie die Nacht im Luftschutzkeller verbracht hatten. Jeder,...

Zagreb in den Stunden vor dem Angriff In den Stunden vor den ersten Angriffen der Bundesarmee machten sich die Einwohner der kroatischen Hauptstadt Zagreb Mut, nachdem sie die Nacht im Luftschutzkeller verbracht hatten. Jeder, der wollte, bekam eine Waffe — so es welche gab.

Für die rund eine Million Einwohner von Zagreb sind bange Stunden angebrochen: Der Angriff der jugoslawischen Bundesarmee stand am Montag morgen nach den Worten von General Andrija Raseta unmittelbar bevor. Und so rüstete sich die kroatische Hauptstadt seit der Generalmobilmachung vom Sonntag mit allen Mitteln, verteilte Waffen und Uniformen an alle Freiwilligen.

Im Rekrutierungszentrum der kroatischen Nationalgarde hängen nicht nur kroatische Fahnen, Wappen und Porträts des Präsidenten Franjo Tudjman. Eintritt ist frei. Jeder der will, kann sich hier eine Uniform holen und für die Kampfeinheiten rekrutieren lassen. Die meisten der jungen Männer hier haben sich für die vorderste Front entschieden. Spricht man mit ihnen, sagen sie stolz: Wir möchten zeigen, daß wir bereit sind, Kroatien zu verteidigen.

Sie sind es, die Waffen bekommen. Wer nur bereit ist, Zagreb zu verteidigen, der muß sich selbst um ein Gewehr kümmern. Denn es fehlt der kroatischen Nationalgarde an Ausrüstung. Vielleicht auch an Soldaten. Eine Unterschrift jedenfalls genügt, ein Paß oder eine Kennkarte, und man ist dabei. Selbst Ausländer sind willkommen, Kroatien zu verteidigen. Sprachkenntnisse seien nützlich, aber es gehe auch ohne, sagt man uns. Fragen von Journalisten beantworte man nicht, heißt es knapp. Europa schaue ja eh nur zu, wie Kroatien ausblute. „Was wir brauchen, sind Waffen und Kämpfer“, erklärt uns ein Offizier, und er fügt hinzu: „Entscheiden Sie sich, auf unserer Seite zu kämpfen, oder gehen Sie.“

Wir gehen. An der Hausfassade des Rekrutierungszentrums kann man noch immer die übermalten Spuren einer Inschrift erkennen, die noch vor drei Jahren in roten Lettern leuchtete: „Arbeiterklasse, Intelligenz und Armee, die Säulen des Sozialismus.“ Heute verfolgen einen in Zagreb auf Schritt und Tritt kroatische Symbole, Fahnen und Mauerinschriften. Doch prägender und gespenstischer zugleich ist die Musik, die einen verfolgt. In der Nacht zu Montag galt für die Millionenmetropole Verdunkelung und Bombenalarm. Alle Einwohner waren aufgefordert, in die Schutzräume zu gehen oder zumindest im eigenen Keller Zuflucht zu nehmen. Zwar sah man nichts, aber man hörte überall Kampfaufrufe, Rekrutierungsappelle und Volksmelodien. Wohl um die eigene Angst zu überspielen, schaltete man überall das Radio ein — überlaut. „Studio Zagreb“, das erste und zweite Programm des kroatischen Rundfunks, senden rund um die Uhr Kampfberichte und Volksmusik. Seit die jugoslawische Volksarmee unzählige Sendeanlagen bombardiert hat und nicht nur das kroatische Fernsehen, sondern auch der Rundfunk in weiten Teilen Kroatiens im UKW- Bereich nicht mehr zu empfangen sind, strahlen zwei Untergrundsender auf Kurzwelle europaweit aus. Im Falle eines jugoslawischen Staatsstreiches oder der gewaltsamen Entmachtung der Zagreber Regierung sollen dann auf beiden Sendeanlagen Untergrundprogramme zum Widerstand aufrufen.

Zermürbungsstrategie

Geübt wird bereits jetzt. Gleichgeschaltete Nachrichten am Band schalten die Gefühle der Bevölkerung gleich. Schlagersänger, die sich einst rühmten, dem kommunistischen Staatsgründer Tito ein Ständchen gebracht zu haben mit Schnulzen wie „Tito, wir beschwören dich, nicht von deinem Weg abzulassen“, singen nun: „Was mit dem Blut der Vorfahren geschaffen, ist unser, und Kroatien, schönes Heimatland, wir sind mit dir.“

Sich in dieser Atmosphäre im fast ausgestorbenen Zagreb auf Diskussionen einzulassen, ist sinnlos. Herrscht gerade kein Bombenalarm, sprechen die Menschen in den Kneipen nicht über Frieden, sondern über Details, wie die Taktik der „Zermürbung“ am effektivsten durchzuziehen wäre. Ob alle daran glauben, ist nicht auszumachen. Jedenfalls widerspricht öffentlich niemand dem Tudjman-Plan, nach dem Armee- Einheiten umzingelt, Kasernen umstellt, Tausende Soldaten in Gefangenschaft genommen werden sollen. Man versucht, die Einheiten von der Außenwelt abzuschneiden, sogar „auszuhungern“, wie die Generale behaupten. So werde die Moral der Armee von selbst zerfallen, behauptet Tudjman.

Manchmal fragt man sich, ob die Menschen das Wort „Zermürbung“ deshalb so gerne in den Mund nehmen, weil sie selbst schon am Ende ihrer Kräfte sind? Lassen sie sich deshalb nicht in Diskussionen verstricken? Denn unbestreitbar ist, daß die Umzingelung von Kasernen so manchen Offizier zur Amokhandlung zwingt. Wenige Kilometer vor den Toren Zagrebs hatten kroatische Nationalgardisten in der Nacht auf Montag versucht, die Kaserne Samobor zu überrennen. Stundenlange Artilleriegefechte waren die Folge, die Autobahn Richtung Ljubljana wurde so beschädigt, daß sie gesperrt werden mußte. Da keine Seite den Sieg davonzutragen vermochte, wurde gestern in Samobor weiter geschossen.

„Dinarkrieg“

Unweit des zentralen Rekrutierungszentrums in der Branimirovastraße haben sich serbische Heckenschützen verschanzt, so heißt es. Und ein längeres Gefecht folgt vor dem Gebäude und der nahegelegenen Bahnhofsgegend. Die Bilanz: Tote auf beiden Seiten. Ein hermetisch von Panzersperren und Sandbergen abgesperrtes Stadtzentrum. Erstmals wird jetzt auch das Einkaufen schwerer. Die Geschäfte in Zagreb nehmen kaum noch Bargeld an. Das ist eine Anweisung der kroatischen Regierung. Denn angeblich druckt Belgrad seit Samstag Unmengen an Dinar, die nicht durch die jugoslawische Nationalbank gedeckt sind. Serbische „Geschäftsleute“ sollen angeblich alles in Kroatien mit dem Falschgeld aufkaufen. In wenigen Tagen werde die jugoslawische Nationalbank den Dinar um mehrere hundert Prozent entwerten, und dann werde Kroatien auf dem wertlos gewordenen Geld sitzen bleiben. Deshalb im Rundfunk der Aufruf an alle Geschäftsleute, von den Kunden Schecks zu verlangen, die durch die kroatische Nationalbank gedeckt sind.

In der Tat könnte von serbischer Seite ein „Dinarkrieg“ eingeleitet worden sein. Denn die Republik Slowenien will am Dienstag weitere Schritte zur Unabhängigkeit einleiten und die jugoslawische Währung für ungültig erklären. Der Haken dabei: Weder Weltbank noch der Internationale Währungsfonds wollen bisher Sloweniens Eigenstaatlichkeit anerkennen — wie sie auch den Aufbau einer eigenen Währungsreserve nicht unterstützen. So ist die angestrebte slowenische Währung vorerst an den Dinar gebunden, an eine serbisch dominierte Nationalbank, die möglicherweise nicht mehr dem faktisch entmachteten gesamtjugoslawischen Regierungschef untersteht, sondern den jugoslawischen Putschgenerälen. Und die wollen bekanntlich nach wie vor Jugoslawien erhalten. Roland Hofwiler, Zagreb