: Kein falscher Ton
■ Ein Wende-Tagebuch
Ich fühle mich fremd in einer Gegenwart, die meine Vergangenheit nicht zuläßt. Ich fühle mich fremd, weil ich ohne meine Vergangenheit nicht leben will und kann. Vergangenheit wird zwar eingefordert, doch das ist in Wahrheit nur ein verbaler Akt. Es gibt niemanden ohne Vergangenheit — aber sie macht uns Angst. Angst wie nach 1945. Wir sind schon wieder nicht in der Lage, damit umzugehen.«
Das notiert Heike Liebsch am 4.Oktober 1990, dem Tag nach der staatlichen Vereinigung Deutschlands, an ihrem neuen Arbeitsplatz in Dresden. Sie ist jetzt Pförtnerin beim Rat des Stadtbezirks Mitte. Im selben Haus war sie von 1986 — damals 22 Jahre alt — bis zur Wende als untergeordnete »Mitarbeiterin für Staatspolitik in Kirchenfragen« tätig. Sie überwachte die Aktivitäten der Kirchen in ihrem Bezirk und war den Pfarrern behilflich, soweit es ihre Vorgesetzten zuließen. Zu vielen Kirchenleuten unterhielt sie ein vertrauensvolles Verhältnis. Die Berichte über ihre Arbeit, die sie laufend abfassen mußte, gingen auch an die Stasi. Erst sehr spät begriff sie, daß es die Stasi war, die sie deckte, wenn sie mit ihren Vorgesetzten in Konflikt geriet: »Mit dem Vertrauen, das ich bei den Pfarrern genoß, war ich für die Staatssicherheit ein viel wirksameres Instrument, als wenn ich mit einer harten Linie Mauern aufgebaut hätte... Sicher suchte ich im Laufe meiner Amtszeit wiederholt meinen Zweifeln Rechnung zu tragen — aber die Antwort war immer: Was wird aus ‘meinen‚ Pfarrern, wenn ich gehe? Wußte ich doch am besten, was ich letztlich auch verhindern konnte. Genau hier war die Denkdeformation bei mir schon perfekt: Ich konnte und wollte nicht begreifen, daß ich mit diesem Stückchen Kampf um Wahrhaftigkeit — einem Kampf gegen riesige Windmühlenflügel — nur von den mahlenden Balken ablenkte. Während sich Tausende kleine naive Quixotes mühten, drehten sich die Lügen weiter und zermalmten Stück für Stück unsere Selbstachtung.«
Heike Liebschs Dresdner Stundenbuch ist eine subjektive Chronik der Oktoberrevolution in Dresden, deren friedlicher Verlauf wahrscheinlich das große Blutvergießen beim Sturz der alten DDR-Führung abgewendet hat. Es ist ein Protokoll der Zweifel, Ängste, Unsicherheiten einer Beteiligten, die damals noch auf seiten des angegriffenen Staatsapparates tätig, aber innerlich längst zwischen die Fronten geraten war. Es zeichnet den Weg nach, der die Autorin zur ungetrübten Einsicht in die eigene schuldhafte Verstrickung geführt hat, bis hin zum offenen Bekenntnis zu dieser Vergangenheit. Da es inmitten des dramatischen 1989er Herbstes geschrieben ist, ohne Wissen um den Ausgang, liest es sich streckenweise wie ein Krimi.
Das Buch ist ein Glücksfall, nicht nur als Dokument, sondern auch literarisch. Denn bei aller Schlichtheit der Sprache und der Form ist es aus einer genuin schriftstellerischen Perspektive geschrieben, mit genauer Selbstbeobachtung und im Bemühen um unbedingte Aufrichtigkeit. Da soll nichts rechtfertigt, nichts geschönt, nichts reingewaschen werden, da finden sich keine oberflächlichen Schuldzuweisungen und Reuebekenntnisse. Nie verfällt die Autorin in falsche Töne, weder in poetisierende noch in solche, denen die Verdrängung anzumerken wäre oder die schnelle Anpassung an die neue Zeit. So gibt sie ein Beispiel, auf welchem Wege die verlorene Selbstachtung wiedergewonnen werden kann— durch den Mut zur Aufrichtigkeit. Bücher wie dieses sind jetzt wichtig, selbst dann, wenn sie ohne ausgefallene literarische Raffinesse geschrieben sind. Heike Liebsch zeigt zumindest eins: eine mögliche Haltung, aus der ein neues ostdeutsches Selbstwertgefühl erwachsen könnte. Den Ansatz zu einer Identitätsfindung, die weder auf Anpassung noch auf Vergessen beruht. Ob sie gelingt, bleibt am Ende offen. Aber die letzten Sätze klingen bei aller Trauer nicht resignativ, und sie reden auch von der Öffnung des Lebenshorizonts: »Ich fühle mich hin- und hergerissen zwischen Angst, Trauer und Hoffnung auf eine Zukunft, kann damit absolut nicht umgehen. Meinen eigenen Platz zu bestimmen, fällt mir schwer.« Michael Bienert
Heike Liebsch: Dresdner Stundenbuch. Protokoll einer Beteiligten im Herbst 1989 . Peter-Hammer-Verlag, Wuppertal 1991, 19,80 DM
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