: »Der Wolf kommt immer in der Nacht«
Mitte. Irgend jemand hat das böse Wort auf den Briefkasten gekritzelt: »Stasi«. »Das glaubst du nicht«, sagt eine Frau aus Dresden, »der wohnt tatsächlich hier.« Touristen, Spaziergänger und vor allem Reporter belagern das mehrstöckige Wohnhaus im vornehmen Nikolai-Viertel mitten im vereinten Berlin. Seit der Ex-DDR-Spionagechef Markus Wolf gegen Kaution von 250.000 Mark aus der Untersuchungshaft auf freien Fuß gesetzt wurde, ist seine Wohnung zum »Magnet« geworden. Am Haus ziehen Spreedampfer und Schleppkähne vorbei, gleich um die Ecke liegt die Prunkruine der DDR. Vor der Haustür Wolfs bilden sich Menschentrauben, kommt es immer wieder zu erregten Diskussionen. »Ausweisen müßte man den«, fordert ein 38jähriger Autoschlosser. »Solche Leute haben in Deutschland nichts mehr verloren.« Ein anderer gar meint — mit Blick auf die Höhe der Kautionssumme, Wolf solle »enteignet« werden. »Das viele Geld hat der doch nie rechtmäßig erworben.« Zwei junge Mädchen wollen »ein Autogramm und dem Mann einfach mal die Hand schütteln«.
Handfestere Interessen haben die Fotoreporter, die mit ihren schweren Kamerausrüstungen Stunde um Stunde auf das Erscheinen des einstigen Chefspions der DDR warten. Um das erste Foto ringen fast alle Zeitungen der Hauptstadt, besonders die mit den großen Schlagzeilen. »Irgendwann muß er ja kommen«, weiß ein Fotograf, der seinen Schlafsack mitgebracht hat. Die Hoffnung stützt sich auf die gerichtliche Auflage, mit der Wolf vorläufig auf freien Fuß gesetzt wurde: Er darf sich nur innerhalb seines Wohnbezirkes aufhalten, und das ist Berlin-Mitte. »Die können alle warten, bis sie schwarz werden«, glaubt ein Nachbar. »Den Wolf haben wir schon früher kaum zu Gesicht bekommen.« Früher waren nicht wenige Bewohner des Hauses an der Spree wohl irgendwie sogar stolz auf den Stasi-Fürsten in ihrer Mitte, der in den letzten Jahren der DDR als Verfechter Gorbatschows und seiner Perestroika galt und sich im Wende-Herbst offen für demokratische Reformen eingesetzt hatte. »Das ist ein stiller, kluger Mann«, sagt eine Nachbarin. »Der war immer sehr höflich, und was er getan hat, das hat er bestimmt mit viel Verantwortungsbewußtsein getan.« Angesichts der Meute vor dem Haus und im Treppenflur wünscht sich mancher wohl eine andere Adresse. »Kaum schaut man aus dem Fenster, schon wird man fotografiert«, klagt eine ältere Dame.
Am frühen Montag morgen schien das Warten Erfolg zu haben: Blitzlichter zuckten, alles stürmte auf einen Mann zu, der gerade aus einer Limousine stieg. Doch es war wieder der falsche: ein Kellner, der vom Dienst in einer Bar kam. »Der Wolf«, sagt er schlaftrunken, »kommt immer in der Nacht.« Thomas Burmeister/dpa
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen