Nichtstun ist nicht gleich nichts tun

■ Leben um zu arbeiten oder arbeiten um zu leben? Woanders lebt man entgegen deutschen Effizienzvorstellungen

Der Dezemberwind pfiff durch die notdürftig mit Plastikplanen abgedichteten Fensterhöhlen. An den Stellen, wo die Planen eingerissen waren, regnete es in die Zimmer. Vier Tage sollte der Einbau neuer Fenster dauern. Es war allerdings schon vier Wochen her, daß Noel, der Handwerker, die verrotteten Holzrahmen ausgebaut hatte. Danach war er spurlos verschwunden. Eigentlich wollte er lediglich Dichtungsmaterial im Laden um die Ecke kaufen. Drei Tage später tauchte er zum Mittagessen auf. „Autounfall“, sagte er. „Der Fahrer, der mich gerammt hat, beging Fahrerflucht. Ich hinterher. Deshalb konnte ich heute erst kommen.“ Das Dichtungsmaterial? „Hole ich nach dem Essen.“

Nach einer Woche stand er wieder vor der Tür. Zum Mittagessen. „Autounfall“, lautete die verblüffende Erklärung für seine Abwesenheit. „Wieder mit Fahrerflucht.“ Für das Dichtungsmaterial hätte er nach der Autoreparatur kein Geld mehr gehabt. Außerdem sei bald Weihnachten und er müsse noch Geschenke für seine Frau und seine drei Kinder kaufen. Weihnachten ist das Fest der Liebe, sagte ich mir, und gab ihm 200 Pfund. Gegen Neujahr wurde ich unruhig. Die durchschnittliche Temperatur im Haus hatte sich bei sieben Grad eingependelt. Keine Spur von Noel. Ein vorsichtiger Anruf brachte Überraschendes ans Licht: „Ist Noel zu Hause?“ „Nein, ich habe ihn schon zehn Tage nicht gesehen.“ „Sind sie seine Frau?“ „Frau? Welche Frau? Ich bin seine Mutter.“

Die Frage nach den Kindern ersparte ich mir. Als ich beiläufig erwähnte, daß ich bereits einen Vorschuß gezahlt hatte, brach die Mutter lauthals in Gelächter aus: „Was denn, du hast ihm Geld gegeben? Ja, warum soll er denn dann arbeiten? Den siehst du erst wieder, wenn das Geld alle ist.“ Vier Tage später war es soweit. Pünktlich zur Mittagszeit war er wieder da. Auf meine Vorhaltungen und den verzweifelten Hinweis auf das Thermometer reagierte er gelassen: „Ihr Deutschen lebt, um zu arbeiten. Wir Iren arbeiten dagegen, um zu leben.“ Jedes Jahr gehen in Irland Tausende von Arbeitstagen wegen Krankheit verloren, darunter auffällig viele Montage.

Um dem „Blaumachen“ vorzubeugen, haben viele Arbeitgeber eine Regelung gegen die Gewerkschaften durchgesetzt, nach der bei kurzen Krankheiten der Lohn nicht fortgezahlt wird. Die Betroffenen müssen dann zum Sozialamt gehen, es sei denn, sie sind für mehr als zwei Wochen krankgeschrieben. In diesem Fall wird der Lohn weiterhin bezahlt. Viele, die wegen Erkältung oder Kater einen Tag im Bett bleiben, lassen sich nun gleich für 14 Tage krankschreiben, damit sie keine Lohneinbußen haben.

Nach vier Monaten zog Noel schließlich die letzte Schraube an den Fensterrahmen an. Ein Gefühl tiefer Dankbarkeit kam in mir auf. Zwischenzeitlich hatte er drei Wochen in London auf dem Bau gearbeitet und zwei weitere Autounfälle erlitten. Mit Fahrerflucht, versteht sich. Dann war seine Oma gestorben. Eine Woche später war sie schwerkrank. Beim vermeintlich letzten gemeinsamen Mittagessen gelang es Noel, mir eine Dusche aufzuschwatzen. Komplett mit Einbau. Fünf Wochen später fehlte nur noch eine Schraube am Temperaturregler. Um die richtige Größe zu besorgen, nahm er den Drehknopf kurzerhand mit. Am nächsten Tag wanderte er endgültig nach England aus. Mit dem Drehknopf. Da die Herstellerfirma bereits zwei Jahre zuvor pleite gemacht hatte, läßt sich die Temperatur seitdem nur mit einer Zange regeln. Noel ist nicht faul. Er arbeitet nur, um zu leben. Ralf Sotscheck, Dublin

Dolce far niente?

Der Kontrast konnte bezeichnender kaum sein: Die Mitteilung, daß ich die taz verlassen werde, löste bei Kollegen und Freunden in Deutschland die eine Frage aus: Ja, hast du denn eine andere Stelle? Sechs Stunden später, in Italien zurück: Nicht einer der Freunde fragt, wie ich mir die Zukunft vorstelle. Für alle, ausnahmslos, gilt, was Silvio so ausdrückt: „Toll, einfach toll, jetzt kannst du dich endlich mal dem dolce far niente widmen.“ Dann erklärt er, wie schön er sich das vorstellt: „Jetzt hast du endlich mal Zeit, das Buch über Cato zu schreiben, die Schränke für die Kinder zu zimmern und deiner Frau beim Reitunterricht helfen...“

Dolce far niente: Das ausländische Stereotyp verbindet damit den regungslos unter einem Baum liegenden Neapolitaner, der zum Schutz vor Arbeitsansinnen eine Zeitung über sein Gesicht gebreitet hat und ziemlich rabiat wird, zwingt man ihn zum Augenöffnen. Das Vorurteil ist von unbegrenzter Haltbarkeit: Schon Goethe, auf seiner Italienischen Reise ansonsten nicht sonderlich sensibel sozialen Fragen gegenüber, versuchte damit aufzuräumen. „Der gute und so brauchbare Volkmann [Reiseführer, W. R.] spricht zum Beispiel, daß dreißig- bis vierzigtausend Müßiggänger in Neapel zu finden wären, und wer spricht's ihm nicht nach! Ich vermutete zwar sehr bald nach einiger erlangter Kenntnis des südlichen Zustandes, daß dies wohl eine nordische Ansicht sein möchte, wo man jeden für einen Müßiggänger hält, der sich nicht den ganzen Tag ängstlich abmüht. Ich wendete deshalb vorzügliche Aufmerksamkeit auf das Volk, es mochte sich bewegen oder in Ruhe verharren, und konnte zwar sehr viel übelgekleidete Menschen bemerken, aber keine unbeschäftigten.“ Dann berichtet er, wie schon fünf- bis sechsjährige Jungen schuften, und auch die Kleinsten noch eine Handvoll Broccoli zum Markt tragen und feilbieten.

Das „süße Nichtstun“ — es bedeutete in Italien niemals nichts tun: Es ist vielmehr die Freiheit, das zu tun, was einem gefällt. Sich die Arbeit nach eigenem Gusto auszusuchen, nicht auf Anordnungen hören zu müssen, sich nicht beugen und unterordnen zu müssen. Genau da aber kommt das Mißverständnis bei den Ausländern zustande: Wenn einer eine Arbeit ausschlägt, weil ihm der Sinn einfach nicht nach dieser Arbeit steht, gilt er als Faulpelz. Tatsächlich nimmt er wenige Minuten danach eine andere an, vielleicht schlechter bezahlt und sogar schwerer, aber in diesem Moment eher nach seinem Geschmack. „Far niente“ ist nicht das schlaraffiamäßige Untätigsein, sondern die Zeit, in der man ohne Zwänge lebt. Tatsächlich ist auch — und oft gerade — der/ die Arbeitslose in Italien oft viel fleißiger als jeder andere. Er hilft dem Schwager dessen Häuschen bauen, sie vertritt die Tochter am Kiosk, während diese ihr Kind von der Schule holt, oder er repariert die Autos der Nachbarn.

So unbegreiflich uns Deutschen ist, daß einer seinen Job verläßt, ohne einen anderen in Sicht zu haben, so schwer tun sich die Italiener zu verstehen, warum uns geregelte Tätigkeit über alles geht. Als eine Gruppe deutscher Psychiater und Sozialarbeiter nach der gesetzlich verfügten Entlassung aller Patienten der früheren „Manicomi“ (Irrenhäuser) während eines Besuches in Rom nachfragte, wer denn mit den Kranken Beschäftigungstherapie betreibe, verstanden die Italiener gar nicht, wovon die Kollegen da sprachen. Als sie es beschrieben bekamen, schlugen sie die Hände über dem Kopf zusammen: „Um Himmels willen — die sind doch glücklich, daß keiner mehr von ihnen verlangt, sie sollen dies oder das tun. Darin besteht doch gerade die Kur.“ Werner Raith, Rom

Faulheit ist in Madrid kein Thema

Immer wenn der Schuhmachermeister eine Weile gearbeitet hat, legt er den Stichel beiseite, streicht seine Lederschürze glatt und tritt vor die Türe. Dann lehnt er sich an ein parkendes Auto und schaut den Passanten zu, hält ein Schwätzchen mit den Nachbarinnen, die mit Einkaufstaschen beladen vorbeikommen, streichelt die Katze, die sich auf dem Autodach räkelt. Der Schuhmacher ist ein freundlicher Mensch. Nur wenn man ihn bei der Arbeit drängt, wird er grantig. Faul ist er aber sicher nicht. Er fängt früh an zu arbeiten und hört spät auf. Und selbst sonntags öffnet er häufig seine Werkstatt. Aber sein Kommunikationsbedürfnis gehört für ihn zum Tagesablauf, und wenn es in Konflikt mit der Arbeit gerät, dann muß diese eben zurückstehen.

Ähnlich sehen es sicher auch die Angestellten des Telegrafenamtes von Cibeles, der Hauptpost von Madrid. Wenn sie mit den KollegInnen wichtige Dinge zu bereden haben, verschwinden sie kurzerhand hinter Sichtblenden und lassen die anschwellenden Menschentrauben vor den Schaltern ungerührt warten. „Hier in diesem Land funktioniert überhaupt nichts“, pflegen die Kunden empört zu meckern und mit einem Seitenblick auf etwaig anwesende AusländerInnen hinzuzufügen: „Wir sind eben doch noch weit von Europa entfernt“. Doch die lauthals geäußerte Kritik bezieht sich immer nur auf die anderen. Kaum haben sie das Postgebäude verlassen, werden die Kritiker wieder zu normalen Bürgern, die die Einstellung zur Arbeit mit den Postangestellten teilen.

Das spanische Wort für Fleiß, celo, das im Plural Neid, Mißgunst und Eifersucht bedeutet, zeigt deutlich, welche Bedeutung der Eifer unter den gesellschaftlichen Werten Spaniens besitzt. Wem es gelingt zu leben, ohne zu arbeiten, steht im Ruf eines Lebenskünstlers — allenfalls das arbeitsame Galicien mag da eine Ausnahme darstellen. Ob seiner Pfiffigkeit bewundert wird auch, wer arbeitet, dabei jedoch keinen Finger rührt. Denn entweder man arbeitet für einen Dritten und wird also ausgebeutet oder man arbeitet für sich selbst, und dann gibt es sowieso keinen Grund, sich dafür umzubringen.

Der Tagesablauf in den Städten und soweit möglich auch in den Dörfern ist somit durchsetzt von Erlebnissen, die den Bereich der Arbeit verlassen und zum eigentlichen Leben zurückführen. Etwa um elf Uhr morgens steht der Gang ins nächste Stehcafé an, wo in Begleitung von Arbeitskollegen der erste Kaffee des Tages gekippt wird. Um zwei, kurz vor der Mittagspause, gibt es im selben Stehcafé Tapas, Appetithäppchen, für das erste Glas Wein. Die Mittagspause dauert gewöhnlich drei Stunden, danach wird bis acht gearbeitet. Geschäftliche Besprechungen werden jedoch mit Vorliebe ins Restaurant oder zur Not in die Stehkneipe verlagert.

Was auf diese Weise hindernd in die Arbeit gestreut wird, macht den größten Teil der Freizeit aus. Wenn Faulheit also die bewußte Ablehnung von Arbeit ist, so sind die Spanier auch in dieser Hinsicht nicht faul. Denn die Kommunikation mit den Nachbarn, Kollegen und Familienangehörigen ist von großer Bedeutung: Sie ermöglicht den Zusammenhalt der Gesellschaft. Produktiv im Sinne der Arbeitgeber ist dieses Verhalten allerdings nicht, weswegen die sozialistische Regierung vor kurzem eine Kampagne gestartet hat: Der „Wettbewerbspakt“ des Wirtschaftsministers Carlos Solchaga soll die Produktivität der Spanier erhöhen. Doch bislang widerstehen diese der „Europäisierung“. Antje Bauer, Madrid