: Erinnerung an eine Kunst
Ivan Illichs Abschied vom Buch ■ Von Wilhelm Schmid
Wenn heute jemand gefragt wird, was er denn beruflich so mache, und er antwortet kurz und bündig: „Lesen und schreiben“ — dann erntet er einen betretenen Blick. Lesen und schreiben? Und sonst nichts? Lesen und schreiben! Wenn das alles ist, was einer kann, dann ist er reif fürs soziale Netz, nicht vermittelbar beim Arbeitsamt. Es gibt für ihn nur zwei Möglichkeiten: Entweder er sieht zu, daß er „was Anständiges“ lernt, oder er klinkt sich aus der Gesellschaft aus und geht ins Kloster, dorthin, wo das Buch herkam, das uns lesen lehrte, vom Schreiben ganz zu schweigen.
Es ist möglich, daß der Wert der Welt der Buchstaben nun erst so richtig taxiert werden kann, da ihr Verlust droht. Es ist auch möglich, daß die Buchkultur bald wieder zu dem wird, was sie einst war: Fetisch oder Instrument einer kulturellen Elite. Das Buch als etwas, das man sich leistet wie Kaviar: Man gönnt sich ja sonst nichts. Es ist aber auch möglich, daß es mit dem Buch ernsthaft zu Ende geht. Unter dieser letzteren Prämisse schrieb Ivan Illich sein Buch, um sich — ohne Tränen, ohne Melancholie, ohne Bedauern — im Augenblick des Abschieds vom Buch an einen seiner Anfänge zu erinnern und den Moment noch einmal auszukosten, in dem die buchgebundene Lektüre zu einer freien Kunst geworden war.
Nein, Illich schreibt nicht die Geschichte des Buchdrucks — die Erfindung Gutenbergs kommt erst relativ spät —, sondern die Geschichte der Techniken, die schon dreihundert Jahre vor Gutenberg das Lesen zu dem gemacht haben, was es vom 12. bis zum 20. Jahrhundert geblieben ist: eine allgemeine kulturelle Form, die mit einer ganzen Anzahl von Gesten und Haltungen einherging und mit einer Kunst des Schweigens verbunden war; ein Modus schließlich, sich selbst herzustellen, indem man sich vom Text subjektivieren ließ. Die Schrift regiert den Leser, indem sie ihn mit der verführerischen Klarheit der Buchstaben durch den unabsehbaren weißen Raum der Möglichkeiten führt. Der Buchstabe ist der Schatten, der sich in einer Welt des Lichts abzeichnet und ihr Konturen verleiht, an denen man sich orientieren kann.
Die Lektüre war eine Askese, eine Übung. Der Mönch Hugo von St. Viktor widmete dieser Form der Askese, diesem exercitium, sein Didascalicon — ein „Buch der Bildung“, ein Traktat über die Kunst des Lesens, um 1128 geschrieben, und darauf vor allem bezieht sich Illich. Lesen heißt, sich selbst zu bilden. Es ist eine der im Kloster bewahrten und von dort aus tief in die abendländische Kultur eingedrungenen antiken Selbsttechniken, die in der lateinischen Tradition zu Disziplinen wurden — nicht nur eine Übersetzung, sondern eine Bedeutungsverschiebung gegenüber der griechischen Tradition der Erziehung. Niemand vor Hugo hat diese Arbeit am Selbst, deren Technik die Lektüre ist, dermaßen universalisiert und geradezu zur Pflicht jedes einzelnen erklärt.
Die Kunst des Lesens war als eine Form der Askese Bestandteil der antiken Paideia, der Erziehung, gewesen, in der die Individuen geformt wurden und sich selbst formten — auf der Suche nach einer Lebenskunst, die unter dem Begriff der „Weisheit“ erschien. „Von allen erstrebenswerten Dingen ist die Weisheit das erste“, setzte denn auch Hugos Didascalicon ein, und das hat eine Dimension, die durchaus auch weiter reicht: Letztendlich betrifft die Kunst der Lektüre eben nicht nur das Lesen des Buchs, sondern das Lesen des Lebens, der Welt, der Strukturen. Die Tätigkeit des Lesens ist gar nicht gebunden an die Existenz von Buchstaben. Das Leben zu lesen heißt, offen sein für Erfahrungen; Spuren entziffern, die andere gar nicht wahrnehmen; Aspekte überkreuzen, die man noch nie beieinander gesehen hat. Es ist falsch zu glauben, Lesen sei nur eine Passivität.
Gewiß, Hugo hat die Kunst des Lesens nicht erfunden, aber er hat sie in den Horizont der Entstehung eines neuen Selbst gestellt. Das moderne Individuum hat hier eine seiner Wurzeln. Im Licht des Textes erkennt das Individuum sich selbst, indem es sich erfährt und in der Erfahrung formt. Das neue Selbst entsteht auf diese Weise. Denn was ist das Selbst? Es ist nichts als eine Ansammlung von Zeichen, die erst zu entdecken, das heißt zu lesen sind. Dazu ist es nötig, die Umgebung, die einem schon allzu vertraut ist, zu verlassen. Die Lektüre formt in der Einsamkeit, in der sie stattfindet, die Seinsweise des Subjekts um. Sie ist wie eine Pilgerreise.
Es ist die Sinnlichkeit des Lesens, an die Illich wieder erinnert und die sein Buch so lesenswert macht. Es ist seine Absicht, mit dieser phänomenalen Studie, gestützt auf eine breit angelegte Gelehrsamkeit, aufzuzeigen, welcher Zusammenhang zwischen einer Technik wie der des Lesens und der Ausarbeitung von Lebensformen besteht. Das wird nichts von seiner Aktualität verlieren, auch wenn das Buch tatsächlich verschwinden sollte. Vielleicht hat Illich auch listig daran gedacht, uns den Mund noch einmal so richtig wässerig zu machen, damit der Abschied vom Buch wenigstens zum Drama wird, statt sang- und klanglos an uns vorbeizugehen.
Ivan Illich: Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand. Aus dem Englischen von Ylva Eriksson-Kuchenbuch. Luchterhand Literaturverlag, Frankfurt/M, 1991, 215 Seiten, DM 28,-.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen