Für Fortgeschrittene

Max Goldt als Gewährsmann  ■ Von Michael Rutschky

Neulich habe er zum ersten Mal, erzählt der Literaturprofessor, Helge Schneider gesehen, im Fernsehen. Hinterher total erschöpft durch dieses „Gelächter, das von Entsetzen nicht ganz frei ist“, wie Enzensberger 1961 Raymond Queneaus seinerzeit berühmte Stilübungen charakterisierte.

Natürlich stachle so etwas seinen professionellen Ehrgeiz an. Der erste Arbeitsschritt der kunstwissenschaftlichen Betrachtung, lehrt Gombrich, sei die Bestimmung des Genres. Von Schneider werde man nicht etwa mit dem Genre „Performance“ befaßt, sondern etwas Irrwitzigem, das wohl als „bunter Abend zur festlichen Eröffnung des ANO-Teppichladens in Seelburg“ bestimmt werden müsse. Wobei erhebliche Kunst darauf verwendet wird, uns darüber im Unklaren zu lassen, ob wir dem Ereignis beiwohnen oder der Parodie auf das Ereignis. Was Beckett über das Elend, die Niedertracht undsoweiter der Condition humaine zu sagen habe, wirke weit weniger niederschmetternd. Einfach weil das Genre „Theaterabend“ mit seiner Festlichkeit jede nihilistische Botschaft verklärt. Die Eröffnung des ANO-Teppichladens dagegen ...

Daß Helge Schneider seine, des Literaturprofessors, Aufmerksamkeit verdiene, den Hinweis habe er von einem seiner unbedingt vertrauenswürdigen Gewährsmänner, Max Goldt, dessen monatlicher Kolumne in der 'Titanic‘. Max Goldt zähle natürlich zu demselben „avancierten Cadre“ (Benjamin) wie Helge Schneider. Was er in der Unterhaltungsmusik leiste, könne er, der Literaturprofessor, dem Schrift- und Buchkult verschrieben, nun mal schlecht beurteilen. Aber schon diese Kolumne — erst recht die jetzt bei Haffmans neu versammelten Texte — lehre, wo die Front in den gegenwärtigen Kulturkämpfen verläuft.

Nämlich nicht beim dreizehnten Versuch, im Maßstab 1:1 FaustII oder dem Sommernachtstraum, Finnegans Wake oder die Wahlverwandtschaften mit Streichhölzern nachzubauen („Das kann doch jeder Blöde!“). Sondern hier, bei den Genres, welche in die Kunst- und Literaturgeschichte noch kaum eingefädelt sind, die ständige Kolumne, deren Plappern von Steele und Addison mit ihrer Zeitschrift 'Spectator‘ im 18. Jahrhundert erfunden worden ist; die Groteske, von der Scholem behauptet hat, Mynona sei ihr letzter legitimer Praktiker gewesen, bevor sie in den Schrecken des Ersten Weltkriegs unterging, ein Diktum, dem er, der Literaturprofessor, bei allem Respekt widersprechen müsse: Die Arbeiten eines Hasse Zetterström, gesammelt in Bänden wie Lütiti (1922) oder Schwedenpunsch (1925) könnten sich unbedingt sehen lassen; endlich das Grauen, das Grauen, das der „Sketch“ beim Betriebsfest, Klassenfest, bunten Abend verbreite.

Wir betrachten das titelgebende Stück, Die Radiotrinkerin. Es handelt sich um Concept Art, insofern wir die Sache selbst nur auszugsweise präsentiert bekommen: Das berühmt-berüchtigte Nachtprogramm, bei dem sich eine Frau vor dem Mikrophon live in die Besinnungslosigkeit säuft und immer hemmungsloser ausstößt, was ihr so durchs Hirn gurgelt. („Als ich dreizehn war, ham meine Eltern sich einen neuen Schlafzimmerschrank gekauft/ Abendkleider waren dadrin/ Ich habe meine Eltern nie im Abendkleid gesehen...“) Was wir präsentiert bekommen, gibt sich als Interview, das ein gutgelaunter Moderator mit der gutgelaunten Performerin im Rahmen eines der üblichen Radio-Magazine abhält, ein Genre, von dem der normal-beflissene Feuilleton-Konsument nur weiß, daß es Kulturverfall und Barbarei bedeutet (als einzig kulturvoll gilt hier das Hörspiel). — „Gelegentlicher, ich betone: gelegentlicher, exzessiver Alkoholgenuß“, erklärt die Radiotrinkerin zur Therapeutopoetik ihres Unterfangens, „und ich betone auch das: Exzessiver Alkoholgenuß — die drei Gläser Wein zum Essen bringen überhaupt nichts — kann durchaus entkrampfen und Probleme überhaupt erst bewußt machen und dadurch eventuell doch zu einer Lösung beitragen.“

Damit die Arbeit in diesen Genres weitergehe, schließt der Literaturprofessor, müsse, wie am Anfang schon gesagt, offen bleiben, ob es sich um eine Parodie handelt oder das Ereignis selber. Unverkennbar macht das Stück, indem es Saufen für therapeutisch wertvoll erklärt, die blühende Therapie-Kultur insgesamt zum Gegenstand der Satire (er persönlich liebe auch sehr, als Beitrag zu der von Alice Miller gestifteten Praxis der Schimpfens und Klagens über Sozialisationsdefizite, die Sache mit der Dreizehnjährigen, die, Jammer, ihre Eltern nie im Abendkleid gesehen habe...). Andererseits hat die Erfindung der Radiotrinkerin soviel ästhetisches Eigengewicht, daß man wirklich begierig wird, ihr Nachtprogramm zu hören...

So sei Max Goldt zugleich der von Adorno in Stück 134 der Minima Moralia („Juvenals Irrtum“) formulierten Einsicht treu, daß die avancierten Kader der Satire mißtrauen müssen, weil eben der fortgeschrittene Standpunkt, von welchem aus ein Handeln oder Bewußtsein dem Gelächter preisgegeben werden kann, heutzutage im Ungewissen verschwimme.

Max Goldt: Die Radiotrinkerin. Ausgesuchte schöne Texte. Mit einem Vorwort von Robert Gernhardt. Zürich. Haffmans Verlag, 1991, DM 12,-.