Flucht in die Verbannung

Evelyn Scotts autobiographische Erzählung  ■ Von Elisabeth Pfister

Im Dezember des Jahres 1912 geht in Brasilien ein amerikanisches Paar an Land. Es ist auf der Flucht. Die gerade 19 Jahre alte Frau ist schwanger, der doppelt so alte Mann mittellos und ohne Beziehungen im neuen Land. Ihm droht außerdem die Verhaftung wegen Verführung einer Minderjährigen, seine haßerfüllte Ehefrau hat längst Verfolger auf ihn angesetzt. In Brasilien, so hofft das Paar, werde man endlich ein sicheres Versteck finden. In den drei nun folgenden Jahren werden der Mann und die junge Frau ihre — nach bürgerlichem Maßstab verbotene — Liebe mit Hunger und Armut, mit Verzweiflung und Krankheit bezahlen.

Das ist ein Kapitel aus der Lebensgeschichte der Schriftstellerin Evelyn Scott, und es ist die Geschichte ihres soeben auf deutsch erschienenen Buchs Auf der Flucht. Fragmente einer Autobiographie. Geschichte und Titel klingen nach einem weiteren Traktat für die Abteilung „Wahre Frauengeschichten“.

Das Buch ist weder das eine noch das andere. Es ist auch nicht die Chronik einer Liaison dangereuse zwischen Hoffnung und Reue. Evelyn Scotts autobiographische Notizen sind eher existentialistisch anmutende Beschreibungen eines Lebens in Fremdheit und Fremde, in einer Verlorenheit, vor der auch die Liebe nicht retten kann. Und — es ist die literarische Entdeckung einer Autorin, die bislang bei uns völlig unbekannt war.

Evelyn Scott — das ist der Tarnname, den sich Elsie Dunn, 1893 in Tennessee geboren, gab, als sie mit Frederick Creighton Wellman, einem verheirateten Biologen, nach Südamerika floh. Sie hat diesen frei gewählten Namen bis zu ihrem Tod 1963 beibehalten — die Flucht als die Geburtsstunde der Evelyn Scott. Auf der Flucht beschreibt die ersten drei von insgesamt sechs Jahren im brasilianischen Versteck. Es ist die radikale Selbsterkundung einer jungen Frau, die in einem fremden, ungeliebten Land zu lähmender Passivität gezwungen ist: Denn auch hier ist die Berufstätigkeit der Frauen noch verpönt, selbst ihr öffentliches Erscheinen ohne Begleitung wird nur mit Feindseligkeit registriert. Und Evelyn Scotts Schwangerschaft ist ein weiteres Handicap. Die Liebe zu „John“ hingegen, wie sie ihn im Buch nennt, scheint all die Jahre das einzig Fraglose gewesen zu sein; in dieser gesamten autobiographischen Erzählung gibt es nur wenige, doch umso anrührendere, innige Sätze über ihre Beziehung. Und das, obwohl sie zu einem Leben in bitterstem Elend gezwungen sind, denn John muß sich mit einer schlecht bezahlten Arbeit begnügen, will er ihrer beider Anonymität nicht gefährden. In ihrer Isolation wird die junge Frau, die nicht einmal die Landessprache spricht, dorthin verwiesen, wohin man die Frauen gerne verbannt: in ihre Innenwelt. Die zuvor vor Aktivität sprühende, hochintelligente junge Frau wird nun — wie zum Ersatz — zur manischen Beobachterin. Mit fast alptraumhafter und doch lakonischer Genauigkeit schildert sie Landschaften, Farben und Geräusche, Menschen und Situationen, von denen sie umgeben ist, als wolle sie die Realität, die sie nicht aktiv erobern darf, zumindest inventarisieren. Vor den Augen des Lesers entstehen gleißende Impressionen der fremden Welt Brasiliens. Evelyn Scotts Beobachtungsgabe und -gier läßt an Kleists Satz denken, ihm sei (vor einem Bild von C.D. Friedrich) zumute, als hätte man ihm die Augenlider abgeschnitten. So schutzlos scheint auch Evelyn Scott den Eindrücken und Bildern ausgeliefert gewesen zu sein, die sie dennoch mit wunderbarer intellektueller und literarischer Kraft bändigte. Gerade die Kraft der Sprache, der Selbstvergewisserung durch die Wörter scheint nicht das unwichtigste Überlebensmittel dieser gequälten und doch selbstbewußten Frau gewesen zu sein.

Bei der Geburt ihres Sohnes erleidet sie innere Verletzungen, die (auch aus Geldmangel) erst Jahre später operativ behoben werden können. Zu Hunger und Armut kommen jetzt auch noch ständige, fast unerträgliche Schmerzen, die sie noch gnadenloser auf sich selber als monadisches Universum zurückwerfen. Schließlich strandet auch ihre Mutter (im Buch macht Evelyn Scott ihre Eltern zu Tante und Onkel) in Brasilien, eine lebensunpraktische, wehleidige und egozentrische Person. Nun wird das Leben auch innerfamiliär unerträglich. Sie kaufen Weideland, doch die Viehzucht mißlingt, sie haben kaum noch Nahrung und Kleidung. Doch Evelyn Scotts Kraft, der Wirklichkeit durch deren Beschreibung zu trotzen und der Banalität des Elends ihre eigene poetische und reflexive Tiefe entgegenzusetzen, bleibt ungebrochen. Nach drei Jahren bessert sich die Situation endlich, als John Angestellter einer amerikanischen Firma wird. Mit einem etwas merkwürdigen irrealen Kapitel endet das Buch, dessen Erstausgabe 1930 in den USA erschien. Es schildert nur eine Zeitspanne im exzentrischen Leben dieser sinnlichen und immer an der Grenze zum Wahn lebenden Frau, wie Ebba D. Drolshagen, die auch die vorzügliche Übersetzung besorgte, sie in ihrem Nachwort portraitiert. In den USA scheint Evelyn Scott mit ihren Romanen, Gedichten und Kinderbüchern zumindest zeitweise populär gewesen zu sein. So populär jedenfalls, daß William Faulkner, als man ihn 1940 fragte, ob es eine Schriftstellerin gebe, die er schätze, antwortete: „Na ja, für eine Frau war Evelyn Scott gar nicht schlecht.“

Evelyn Scott: Auf der Flucht. Insel Vlg., geb., 288 Seiten, DM 38,-.