Torheit ist schon schlimm...

Julio Ramón Ribeyro hatte 200 Einfälle  ■ Von Rolf Vollmann

Fast nichts ist so trostlos wie ein Mensch, der glaubt, er muß denken, um heil durch die Stadt zu kommen, und der nicht denken kann. Da siehst du ihn morgens vor dem Haus, und er sagt: In privilegierten Augenblicken erreicht mein Blick eine unerträgliche Schärfe und meine Intelligenz eine Kraft des Durchschauens, die mich erschrecken. Alles wird zum Zeichen, zur ahnungsvollen Bedeutung — wenn das man gut geht, sagst du dir, aber immerhin, denkst du: Noch hat der Junge Mut. Aber an der nächsten Ecke steht er schon wieder wie verloren still da und sagt dir: In der biologischen Kette oder, konkreter, im Verlauf der Menschheitsgeschichte sind wir ein Aufglänzen, nicht einmal das, ein Aufzucken, noch weniger, ein Stein, der in einen Brunnen fällt, noch unbedeutender, ein Abglanz, ein Hauch, ein Sandkorn ... — naja, sagst du dir, das geht ja noch, wer weiß, vielleicht hat er auch recht, so für sich, und tröstest ihn ein bißchen, und gehst weiter. Aber am Stadtrand steht er wieder so verlassen da, und sagt zu dir: Die Natur ist von sich aus häßlich. Die Schönheit haben wir ihr dazugegeben, sie ist eine Konvention, deren Ursprung bei den griechischen Bukolikern, bei Vergil, den Klassikern der „amerikanischen Landschaft“, bei den englischen Romantikern zu suchen wäre. In der Literatur eben — aha, sagst du dir, ein Schriftsteller, vielleicht erklärst du ihm noch, wie das bei den griechischen Lyrikern war und bei einer Reihe von anderen Kollegen, die er nicht zu kennen scheint, und gehst weiter, auch wenn du dem Tag jetzt nicht mehr ganz traust. Und richtig, da steht er eine Stunde später wieder und sagt zu dir: Das Seltsame an unserem Körper ist die Unterwerfung unter die Regeln der Symmetrie. Wir haben zwei Augen, zwei Ohren ... das führt er nun aus, dann fragt er dich: und welche Beziehung besteht zwischen diesen verdoppelten Organen oder Gliedmaßen und den einmaligen wie Zunge, Schlund, Magen, Herz, Leber, Phallus, Anus? Was antwortest du ihm? Hat er denn keine anderen Probleme? Doch, er hat: An der übernächsten Ecke steht er wieder so da und sagt laut angesichts eines Burschen, der mit einem Ledermädchen auf einem Motorrad vorbeifährt: Das ist etwas, das ich nie mehr werde tun können! Aber es gibt auch andere Dinge, die meine unerfüllten Träume bleiben werden... und nun führt er einige auf, und an fünfter Stelle: Klavierspielen lernen — na ja, sagst du dir wieder, schon nicht mehr ganz so freundlich, wie wär's denn mit Radio? Aber das würde ihn natürlich kaum trösten. Und fünf Ecken weiter rührt er sich gar nicht mehr vom Fleck; wir haben den ersten Mai, wenig Verkehr; aber er hat eine kleine Schnecke auf dem Asphalt gesehn, er hat sie aufgehoben, auf den Bürgersteig gebracht, nun ist sie vor Autos gerettet, klar, aber dafür, sagt er zu dir: Auf jeden Fall sind ihre Minuten gezählt. Wohin wollte sie gehn, die Arme? Wer hat sie erwartet? Welchen Plan hat sie in ihrem kleinen Kopf ausgeheckt? Schutzloses Tierchen, wie du, wie ich, wie jedermann. Du weißt nicht recht, ob du dich wirklich angesprochen fühlen sollst als ein schutzloses Tierchen wie die Schnecke und er, aber du weißt jetzt, was er früh am Morgen gemeint hatte damit, wie großartig er sich in diesen Momenten fühlt, wenn ihm alles zu einem ahnungsvollen Zeichen wird. Toledo hat mir gefallen, aber Frankfurt nicht, ruft er dann plötzlich dir über den Markt zu, und fährt drei Ecken weiter fort: Ich glaube nicht, daß man, um zu schreiben, auf Abenteuersuche gehen muß. Das Leben, unser Leben ist das einzige, das größte Abenteuer — hier sagst du ihm freundlich auf Wiedersehn, alles Gute, Sie haben recht, bleiben Sie einfach im Haus, schreiben Sie was richtig Kräftiges! Und noch einmal schweigt er nicht und sagt: Den Schriftstellern wird vorgeworfen, sie hätte eine Neigung zu düsteren, traurigen, dramatischen, schmutzigen Themen und nie oder fast nie zu glücklichen Themen. Ich glaube nicht, fährt er nun fort, obwohl du dich schon gar nicht mehr eingemischt hast, ich glaube nicht, daß dies das Ergebnis einer Vorliebe ist, sondern die Unmöglichkeit, eine Klippe zu umschiffen. Das Glück nämlich läßt sich nicht beschreiben, man kann das Glück nicht deklinieren, und dann sagt er: Wo das Glück beginnt, beginnt das Schweigen. Dann schweig doch, möchtest du antworten, und werde glücklich; aber du läßt es; wenn seine bleierne Logik ihm nicht weiterhilft, wird deine freundliche Unlogik auch nichts ändern.

Tatsächlich, etwas Bleiernes liegt über den fruchtlosen Denkbemühungen solcher Menschen. Man könnte sich vorstellen, daß ein Romancier eine Figur ersinnt, die, ließe er sie schreiben, fortwährend so von einer Pfütze in die andere stolperte; bloß: Würde er solches Stolpern irgendeinem seiner Leser zweihundertmal auf einhundertachtzig Seiten zumuten? Bestimmt nicht. Julio Ramón Ribeyro, Jahrgang 1929, ein Peruaner, hat Romane geschrieben, auch er würde sowas nicht tun. Aber zwischen den Romanen, sagt er, seien ihm, ihm selber, tausend Sachen eingefallen, die habe er aufnotiert, zweihundert davon habe er ausgesucht, und hier seien sie nun — also er selber! Nicht mal irgendeine trübe Erfindung, er selber! Es ist wirklich furchtbar, jemandem zusehen zu müssen, der so gern was herauskriegen würde mit dem Kopf, und der doch nur von Gemeinplatz zu Gemeinplatz kommt, von einem Klischee ins andere. Helfen kann man da nicht, nur weglegen, das Büchlein, kann man noch, und hoffen, daß die Luft wieder klar wird. Torheit ist schon schlimm, aber Unvermögen ist was Grauenhaftes.

Julio Ramón Ribeyro: Heimatlose Geschichten. Aus dem Spanischen von Anneliese Botond. Ammann Verlag, Zürich 1991, 185 S., geb., DM34,-.