Mildes Urteil für schwere Körperverletzung

■ Ein Jahr und neun Monate auf Bewährung für Stich mit Drogenspritze

Nach mehr als fünf Monaten Untersuchungshaft konnte die aidskranke Christine B. gestern das Amtsgericht Bremen als freie Frau verlassen. Sie war angeklagt, einen Arzt des St. Jürgen- Krankenhauses absichtlich mit einer Spritze verletzt zu haben, die sie sich vorher selbst in den Arm gestochen hatte: Sie habe damit die Infizierung des Arztes mit dem HIV-Virus in Kauf genommen, so der Vorwurf. Zwar verhängte das Gericht wegen „versuchter schwerer Körperverletzung“ eine Haftstrafe von einem Jahr und neun Monaten — doch die wurde sofort zur Bewährung ausgesetzt.

„Eine mutige Entscheidung“, kommentierte Christine B.'s Verteidiger Carl-Heinrich Schulze. Richter Ulrich Hoffmann sagte während der Urteilsbegründung, „daß die Entscheidung das Schöffengricht fast auseinandergerissen hätte“. Obwohl der Staatsanwalt zwei Jahre und sechs Monate gefordert hatte, verzichtete er darauf, Rechtsmittel einzulegen. Das Urteil ist damit rechtskräftig.

Im November 1990 war Christine B. von Polizisten in die Notaufnahme des St-Jürgen-Krankenhauses gebracht worden. Dort stach sie sich eine gebrauchte Spritze in den Arm und drohte, die Polizisten damit mit Aids zu infizieren. In seinen rechten Daumen gestochen wurde dann aber der Arzt der Notaufnahme. Er hatte sich der Angeklagten in den Weg gestellt, weil er dachte, die Angeklagte wolle mit der Spritze auf eine Schwester losgehen.

Das Schöffengericht kam zu der Ansicht, „daß krankhafte seelische Störungen bei Christine B. nicht auszuschließen sind“. Ihre langjährige Drogenabhängigkeit und die schwere Krankheit seien für das aggressive Verhalten gegenüber dem Arzt mitverantwortlich zu machen. Für Richter Hoffmanns Urteilsspruch spielte schließlich auch eine Rolle, daß die Aids-Krankheit bei Christine B. schon ausgebrochen ist und sie nur noch wenige Jahre zu leben hat.

Für die Verteidigerin Ute Sommer ist ihre Mandantin „keine Kamikazefliegerin“, andere Menschen seien ihr nicht egal. Für den Verteidiger ist der Spritzenstich ein „Unfall“. Seine Mandantin habe die Spritze nicht wirklich benutzen wollen: In der Drogenszene sei es Allgemeingut, daß Polizisten durch die Drohung mit angeblich aidsinfizierten Spritzen in die Flucht geschlagen werden können.

Während des Verhandlung hatte sich auch herausgestellt, daß der Arzt Glück gehabt hatte: Er war durch den Stich nicht infiziert worden.

Staatsanwalt Johann-Michael Gottschalk begann sein Plädoyer mit den Worten: „Schon lange habe ich ein Plädoyer nicht mehr mit zittriger Stimme begonnen, ich weiß nicht, ob ich recht habe.“ Er hielt aber den Vorwurf der vorsätzlichen gefährlichen Körperverletzung für erwiesen. Christine B. müsse in's Gefängnis, „weil niemand seine Krankheit zur Waffe machen darf“.

Das Verfahren stand von Anfang an im Zeichen der Hysterie vor Aids. Vor dem ersten Verhandlungtag hatte die Bild-Zeitung getitelt: „Aids-Frau lief Amok. Äußerste Vorsicht, wenn sie auftaucht.“ Im Gefängnis in Oslebshausen war Christine B. zu Anfang in strenger Quarantäne gehalten worden und der Staatsanwalt gab zu, zunächst „Angst“ vor der Angeklagten gehabt zu haben.

Im Gegensatz zu anderen Drogenkranken ist Christine B. - sie nimmt unter ärztlicher Aufsicht das Ersatzmedikament Methadon — jetzt in einer relativ günstigen Lage. Der Hilfsverein „Ani- Avati“ will für sie einen Heimplatz organisieren, wo sie regelmäßige ärztliche Hilfe bekommt. Die Sozialpädagogin von „Ani- Avati“: „Meist stehen wir aber vor dem Nichts, es gibt kaum Unterkünfte, in denen mit Methadon substituierte Drogenabhängige aus dem Teufelskreis der Droge herauskommen.“ Der Senat bietet in solchen Fällen meist Hotels an, in denen auch mit Drogen gehandelt wird.

Hannes Koch