DEBATTE
: Brennende Welt der 90er

■ Überlegungen zur atomaren Abrüstung

Die Bombe“ — noch ist sie ein Weltsystem: Unsichtbar, bedrohlich, überall einsetzbar. Das Untergangstrauma Hiroshima war, als beide — Ost und West — sie hatten, zum Abschreckungsgaranten erklärt worden. „Mit der Bombe leben“ war die Formel, auf die Carl Friedrich von Weizsäcker vor mehr als 30 Jahren die Unvermeidbarkeit gebracht hatte. Und so wurde sie, was schon ihre Bastler in Berlin und Los Alamos geahnt hatten, zweierlei: Philosophieersatz zum angemessenen Umgang mit dem Weltende, und zugleich ausgetüftelte Abschreckungswaffe in den Silos. Friedensgarantie für die einen, apokalyptisches Instrument fürs menschengemachte Weltende für die anderen. Die atomaren Militärs aber wollten sich soviel Endzeitliches von den Balance-Strategen nicht aufschwatzen lassen. Und so tüftelten sie in den sechziger und siebziger Jahren immer kleinere Einsatzformen für die ganz große Waffe aus: Plötzlich war es da, das „nukleare Gefechtsfeld“ — Jubel bei den Haudegen, aufkeimende Angst bei den Abschreckungsstrategen: Irgendwann in den siebziger Jahren schien der begrenzte Nuklearkrieg wieder führbar; mit „Gefechtsfeldwaffen“. Die atomgeladene Landhaubitze wurde zum zweiten Alptraum nach dem Hiroshimaschock der Fünfziger.

Mit Golfkrieg und Jugoslawienkrise war es stiller um die Endzeitwaffen geworden.

Jetzt aber hat George Bush die Abrüstungsmuskeln spielen lassen. Ohne auf Wörners Planer in Brüssel zu warten, ist die größte einseitige Selbstreduzierung der nuklearen Raketengeschichte verkündet worden. (Was macht eigentlich die nukleare Planungsgruppe der Nato?)

Was will Bush? Alle 1.500 atomaren Artillerie-Granaten werden zerstört; alle „1.282 landgestützten Kurzstreckenraketen“ werden beseitigt, und auch noch die zweieinhalbtausend Dinger, die in den U-Booten und anderen Schiffen abschußbereit waren.

Und dann ist der große Welt-Bomber-Alarm abgestellt worden. Diese — wie der liebe Gott — immer imEinsatz fliegenden Bombenbomber. Schluß aus. Leningrad heißt wieder St.Petersburg, und Amerika ist wieder ohne atomaren Daueralarm.

Wir alten Mutlanger reiben uns die Augen. Die Abschreckungsspezis auch. Einen langjährig Versierten treffe ich in Bonn, er ist betrübt, die Einseitigkeit des Vorhabens empfindet er als Problem. Abrüsten, ohne zu verhandeln, das kann, so die Meinung dieses Experten, nicht gutgehn.

Sonst ist viel Freude aufgekommen nach der Bush-Initiative. Aber wir müssen genau hinsehen: Mein Freund Hermann Scheer, Vorsitzender des Unterausschusses für Abrüstung und Rüstungskontrolle im Deutschen Bundestag: „Alle angekündigten atomaren Abrüstungsschritte der USA sind zu begrüßen — aber ungeteilten Beifall verdienen die damit verbundenen Perspektiven nicht.“ In der Tat, dieser gewaltige Schritt kann auch interpretiert werden — und Scheer tut dies — als großes atomares Aufräumen, um der Atomstreitmacht Amerika ihre Ungereimheiten und Widersprüche zu nehmen, vor allem, um wieder auf ein klares Abschreckungskonzept zurückzukommen, ohne sich in das Risiko nuklearer Gefechte einzulassen. Immerhin. Die nie mit Abschreckung begründbaren Kurzstreckenraketen hätten auch nach der Doktrin längst abgeschafft gehört. Wir stritten über den Ersteinsatz, den die US-Doktrin wollte. Dann gab es die „No-First-Use“-Forderung in Amerika, die in Europa viele nicht mitmachen wollten. Jetzt hat sich also herumgesprochen, daß das Ganze „No-Use“-Waffen waren.

Aber die „Dual Use“, also die Doppelnutzung, bestimmter Raketen sowohl für Atom- wie für Nicht- Atomwaffen, wird nicht erwähnt in der Bush-Verkündigung. Was ist mit den „Cruise Missiles“, den komischen Wunderdingern, die immer noch nach der fotografierten Reallandschaft knapp überm Boden wie Science Fiction ihr Ziel erreichen?

Auch die immerhin etwa 1.300 „Frei-Fall-Atombömbchen“, die aus Flugzeugen abgeworfen werden, finden in der Bush-Offerte noch keine Berücksichtigung.

Und was ist mit der nuklearen Waffenplanung für den Weltraum? Wird es darüber Verhandlungen geben? In der Bush-Rede wird dieses Gebiet nur indirekt angesprochen. Vor allem aber: Bush will die Atomwaffen weiterentwickeln. Er hat nicht einmal den schon von Kennedy vor bald 30 Jahren geforderten Teststop erwähnt und ist auch nicht auf den Stopp der Atomversuche eingegangen, die Gorbatschow mit seinem Moratorium vor kurzem exerziert hat. Bush und die Nato setzen nämlich weiter auf die alte atomare Abschreckungsdoktrin. Unter neuen, technologisch moderneren Bedingungen.

Auch die Sowjets — die immerhin jetzt wieder bereit sind, die Atomtests zu stoppen, perspektivisch also weitergehen als Bush — haben bisher nicht erkennen lassen, daß sie im Grundsatz ihr nukleares Potential antasten werden.

Viel einzelne Kritik ließe sich noch aus Bushs Plänen und Moskaus erster Reaktion herauslesen. Im Ganzen ein großer Schritt der USA — verstehbar in dieser Schnelligkeit wohl nur durch die Hoffnung, mit diesem Schritt die Notwendigkeit einer zentralen politischen Instanz in der „ehemaligen“ Sowjetunion zu erhalten. Durch gemeinsame Abrüstung die vielen sowjetischen Republiken zu einem Rest zentraler Gemeinsamkeit zu zwingen.

Und die Europäer? Lebt die alte Sehnsucht nach dem völlig atomwaffenfreien Europa noch? Strategisch ist sie die logische Folge der neuen Lage nach dem Zusammenfall des Warschauer Pakts. Aber Franzosen und Engländer wollen Atommächte bleiben. Gegen wen? Gibt es darüber eine wirkliche europäische Diskussion?

Und die Friedensbewegung? Wenn es sie denn noch gibt, als Glasnostalgie in unseren Köpfen vielleicht? Welche Fragen stellen wir? Aus dem alpgeträumten Großen Krieg der achtziger Jahre sind unzählige grausame kleine Kriege in aller Welt geworden. Wir konnten durch Demos nicht die eine Million Toten im Irak-Iran-Krieg verhindern (und haben es kaum versucht). Wir konnten den Rüstungsexport in den waffensüchtigen Irak nicht verhindern, wir konnten den Überfall auf Kuwait nicht verhindern. Und wir können das Gemetzel im ehemaligen Tito- Jugoslawien nicht stoppen, wo Bauern aus den Höfen gejagt werden wie im Dreißigjährigen Krieg. Die Welt der Neunziger sieht anders aus als die Bilder, die uns die Endzeit-Angst der Achtziger beschert hatte.

Steckt also in dem Bush-Plan überhaupt kein Erfolg der alten Friedensbewegung? Doch. Die Friedensbewegung hat Abrüstung zum großen Ja-Wort des Jahrzehnts gemacht und die schon fast liebevoll akzeptierten Atomwaffen wieder zum Schreckwort des Jahrhunderts.

Aber die Welt hat sich verändert: Mutlangen, das war Name und Adresse, das hatte ein Datum und kannte die Urheber. Jetzt richtet sich alles wieder ein auf die Führbarkeit der nicht-nuklearen Kriege, und die Atomwaffen scheinen keine Rolle bei ihrer Verhinderung zu spielen, weder positiv noch negativ.

Kein serbischer General und kein kroatischer Präsident kümmert sich um das benachbarte Atom-Europa. Ist wurscht-egal. Weder Abschreckung noch Erpressung läuft.

Bleibt die Proliferation, die große Angst, daß der Irak, daß Indien und Pakistan, vielleicht eines Tages Algerien sich mit den Atomwaffen irrational verhalten könnten. Ja, ich habe diese Furcht. Der Nichtverbreitungsvertrag gehört wieder auf die Tagesordnung unserer Diskussion. Solange aber die Reichen an der atomaren Abschreckungsdoktrin, auch nach der großen Abrüstungswelle, festhalten, wird es schwer mit der Nichtverbreitung.

Gibt es denn neue Utopie für die Neunziger? Der Traum, der kommt, wenn wir die Augen zumachen? Das klar gedachte Unmögliche? Ja, aber ich träume ihn nach dem Golfkrieg als Traum vom Ende der großen Rüstungsexporte. 87 Prozent aller Waffenexporte kommen von den fünf ständigen Mitgliedern des Weltsicherheitsrates. Irak hätte nicht Kuwait überfallen, die jugoslawische Armee nicht Dubrovnik (das ist so wie „Bundeswehr schießt auf Heidelberg“) angreifen können ohne diese rücksichtslose Aufrüstung durch die großen Exporteure. Laßt uns also vorankommen bei der Atom-Abrüstung, laßt uns daran erinnern, wer das Wort Abrüstung weltweit salonfähig gemacht hat, so daß es den Regierungen anfing, in den Aktendeckeln zu brennen. Aber laßt uns die Ziele so formulieren, daß sie mit der blutigen und brennenden Welt der neunziger Jahre zu tun haben und weniger mit unseren rauchenden Köpfen der achtziger. Freimut Duve

Der Autor ist SPD-MdB und Mitglied im Auswärtigen Ausschuß des Bundestages