„Dann haben wir den Ring geschlossen“

■ Zwei Jahre nach der entscheidenden Demonstration am 9. Oktober erinnern sich Leipziger Bürger

Leipzig (taz) — Am 9. Oktober 1989, zwei Tage nach den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR in der Hauptstadt, demonstrierten über 70.000 Menschen in Leipzig. Ausgangspunkte der Demonstration waren vier Kirchen. Unter den Anwesenden befanden sich auch einige hundert von der SED-Bezirksleitung abkommandierte Parteimitglieder. Über Stadtfunk und in den Kirchen wurde der Aufruf der „Leipziger Sechs“, zu denen neben Gewandhauschef Kurt Masur der Pfarrer Ch. Zimmermann, der Kabarettist Bernd Lutz Lange und die Sekretäre der SED-Bezirksleitung Meyer, Pommert und Wötzel gehörten, verlesen: „Bürger! Wir sind von der Entwicklung in unserer Stadt betroffen. Wir alle brauchen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land. Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird.“ Im Laufe des Tages riegelten Tausende Soldaten der NVA, Kampfgruppeneinheiten, Stasi-Angehörige und Bereitschaftspolizei die Innenstadt ab. Schützenpanzer und Mannschaftswagen mit Tränengaswerfern fuhren auf. Gegen 18 Uhr setzte sich der Demonstrationszug in Bewegung; erste Sprechchöre: „Keine Gewalt!“, „Gorbi, Gorbi“ und „Wir bleiben hier!“ ertönen. Als der Zug das „Runde Eck“, das Gebäude der Staatssicherheit, passierte, schien der friedliche Ausgang der Demonstration klar: Die Ordnungsmacht verschanzte sich in den Gassen.

Zwei Jahre danach „begeht die Stadt Leipzig den 9. 0ktober 1991“ unter dem Motto „Aufbruch zur Demokratie“. Die taz fragte Leipziger Bürger, wie sie den 9. Oktober 1989 erlebt haben.

Hannelore Kubitz, Rentnerin: „Ich habe immer die Friedensgebete besucht, schon seit Jahren, aber die Situation am 9. Oktober war einfach ganz anders. Angst, ja Angst habe ich gehabt, als ich da vor der Nicolaikirche die Armee habe aufmarschieren sehen. Es stand Spitz auf Knopf, und mir war klar, daß es jetzt darauf ankommt, zusammenzuhalten und zu marschieren. Das wußten auch alle, die in der Kirche waren, und deshalb sind wir auch gegangen. Und dann kam der Aufruf von Masur, und wir haben geklatscht und waren ein klein bißchen erleichtert. Dann habe ich einen Hut aufgesetzt, aber da war man ja noch auffälliger.“

Friedrich Magirius, Superintendent (Nicolaikirche), jetzt auch Präsident der Stadtverordnetenversammlung: „Die Aufregung und Spannung nahm im Laufe der Stunden dieser Tage zu, und die Nachrichten überschlugen sich eigentlich zum Negativen hin, also daß die Armee eingreift, um es mit aller Gewalt zu beenden. Die Signale, die wir über Mundfunk aus dem Dunstkreis von Partei und Bezirksleitung bekamen, waren eindeutig so. Wie man's überstanden hat, ist mir heute eigentlich nicht klar. Dann kam der Aufruf. Zimmermann ist von Kirche zu Kirche geeilt. Ich sehe ihn noch schweißtriefend, und er sagte: Kann ich das hier verlesen? Und dann war der Bischof aus Dresden anwesend und erzählte, wie es am 8. Oktober beim Waffenstillstand in Dresden geblieben wäre, und es hätte erste Gespräche gegeben zwischen dem dortigen Oberbürgermeister und Oppositionsgruppen. Dazu kamen die Aufrufe unsererseits und der anderen Gruppen: Keine Gewalt. Man kriegte richtig Angst, ob da nicht irgend jemand provoziert, oder es brauchte ja nur eine Panik in der Menge ausbrechen. Und es war überwältigend, wie das reibungslos sich langsam, langsam auflöste. Und das andere Bild war dann, nachdem der Weg gelungen war, wie die Kampfgruppen und Verbände der NVA da untätig herumstanden.

Jens I., 25, Maschinenbauschlosser, damals Bereitschaftspolizist (Bepo): „Das war eine üble Stimmung in der Kaserne. Wir durften nicht mehr nach draußen telefonieren, und ich wollte am liebsten irgendwie Dienst in der Küche schieben. Lief aber nicht. Gegen 13 Uhr mußten wir in die Innenstadt ausrücken. Vorher hat uns noch der Politoffizier die Lage erklärt. Das weiß ich noch, wie er sagte: ,Genossen, ab heute ist Klassenkampf! Das ist wie der 17. Juni. Wenn der Knüppel nicht ausreicht, wird die Waffe eingesetzt.‘ Aber was genau passieren sollte, hat niemand gesagt. Die Offiziere waren ja auch total ratlos. Wir hatten alle scharfe Munition dabei. Ich wußte wirklich nicht, vor wem ich mehr Schiß haben sollte, vor meinem Kompaniechef oder vor den Leuten, die da draußen gegen uns fluchten.

Claudia Bohse, 40, Lehrerin, Neues Forum: „Also, ich habe mich von meinen Kindern regelrecht verabschiedet, als ich nachmittags aufgebrochen bin. Ich habe damit gerechnet, daß geschossen wird und daß ich jetzt vielleicht auch mein Leben riskiere. Die Stimmung war unerträglich gespannt und wurde zum Beispiel ja auch geschürt durch diese Hetzartikel in der 'LVZ‘ ['Leipziger Volkszeitung‘, Ex-SED-Bezirksorgan], wo wir als Rowdies und kriminelle Elemente beschimpft wurden. Wir haben uns mit mehreren Freunden verabredet und zusammen irgendwie in Sprechchören geschrien, gegen die Angst.

Ursula W., 50, Dozentin der Sektion Journalistik an der Karl- Marx-Universität, ehemals SED- Mitglied: „Ich habe am 9. in der Früh einen Anruf bekommen: Ich solle mich bei der Parteileitung melden. Dann kam ich in die Uni, und auf der Sitzung unserer Sektion wurde dann beschlossen, einige Genossen sollten sofort in die Nicolaikirche gehen. Ich habe mich dann gemeldet. Warum? Ich hatte den Eindruck, da passiert was Entscheidendes. Erst heute bin ich mir eigentlich im klaren darüber, daß wir von der Parteileitung instrumentalisiert wurden, wir sollten die Kirche füllen, damit die anderen nicht reinkommen. Die Parteisekretäre haben ja immer von „Konterrevolution“ geredet. Wir wurden auch ermahnt, das Parteiabzeichen nicht zu tragen und uns sofort von der Demonstration zu entfernen. In der Kirche war ich dann sehr unruhig. Zum Beispiel wurde ich da von einer Studentin ganz haßerfüllt angeblickt. Als der Aufruf kam, war ich erleichtert. Dann kamen Pfiffe von draußen. Ich dachte, die gelten uns, weil die wußten, wer hier mit drin saß. Ich habe mich dann schnell wieder auf den Weg zur Uni gemacht. Dort war eine Parteiversammlung. Ich erinnere mich, daß da zum erstenmal Leute aufstanden und sich über den Tonfall beschwerten, in dem von den Demonstranten als Randalierer geredet wurde. Am nächsten Montag bin ich dann auch zur Demonstration gegangen, aber mit einem komischen Gefühl, denn im Grunde war es ja nicht meine Sache, wenn ich auch mit vielen Sachen einverstanden war, also Dialog, neuer Sozialismus...“

Klaus Hübner, 21, Student: „9.Oktober? Hmm. Mann, ich kriege die Daten ja schon durcheinander. Interessiert mich nicht. Ich habe damit nichts mehr zu tun. Diese ganze rückwärtsgewandte Diskutiererei bringt ja nichts. Da feiern doch wieder mal die Bewegten von einst ihr Heldentum. Und was hat's gebracht?“ Dokumentiert von Nana Brink