Tödliche Schaulust

■ Für Zartbesaitete nur begrenzt zu empfehlen: RA.M.M spielt »Bestia Pigra« im Theatersaal des »Tacheles«

Subkultur brodelt im Tacheles schon länger äußerst rege. Wenn jetzt der Zirkus im großen Theatersaal der aufgeschlitzten Hausruine seine Sägespäne verstreut, ist mit Sicherheit keine artige Artistik zu erwarten. Und hinter dem Schild am Eingang, das angeschlagene Gemüter vor dem Eintritt warnt, versteckt sich keine Clownerie.

Immerhin, im Saal ist eine richtige Manage aufgebaut, doch wirkt sie irgendwie nicht echt. Grobe Fackeln beleuchten zittrig das Geschehen und sind bedrohlich nah ans Publikum herangerückt. Der sichernde Abstand zur Manege wird durch eine mickrige Regenrinne markiert, doch kann sie plötzlich Feuer spucken und bedrängt das Publikum dann mehr, als daß sie vor irgend etwas schützt. Dazu traktiert ein orientalisch gewandetes Zwei-Mann-Orchester die Ohren mit pedantisch-lautem Rhythmus. Diese Zirkusluft weckt Urgewalten, düstere Triebe und archaische Gefühle. Von den Wänden trieft aus riesigen Kitschgemälden maßlose Fleischeslust hinzu.

In einer derart angeheizten Stimmung kann es nicht verwundern, wenn die Bestien in ihren Ställen toben. Sechs Schauspieler der Berliner Gruppe RA.M.M, drei Frauen und drei Männer, mimen die bestialische Natur. Völlig nackt und schrecklich schön spielen sie die wilden Raubtiere ohne jeden Kompromiß.

Der Freiheit beraubt, lauern sie zunächst in ihren Käfigen und klagen laut. Wenn sie dann aber allmählich alle freigelassen werden und durch die Manege schleichen, dann bewegen sie sich so natürlich leicht auf allen vieren, als wären ihre Körper nur durch diesen Gang gebaut. Doch der Bruch ist ihnen ins Gesicht geschrieben: unter Nylonstrümpfen werden traumatische Grimassen sichtbar, die den unbändigen Schrei mit weit aufgerissenen Mäulern eingefroren haben.

Die Unsicherheit zieht Kreise: Das erste Raubtierpaar, das in die Sägespänemitte tappt, schmiegt sich ängstlich aneinander, als hätte es nichts Gutes zu erwarten. Da fällt ein Schuß, und das Weibchen bricht zusammen. Das Männchen zeigt schmerzliche Regung und versucht den Kadaver gegen die nachrückenden Bestien zu verteidigen. Doch die sind in der Überzahl und reißen dem leblosen Körper Fetzen aus der Haut.

Dieser mörderische Zirkus ist ein Schlachthaus. Faszination und Abscheu purzeln ineinander, Angst und Mitleid kreuzen sich im Flackerlicht der Fackeln: Da wuchert eine verhängnisvolle Lust. War die Raubtiernummer einst die kunstvolle Dressur und machtvolle Bändigung der gefährlichen Natur, so ist sie hier zum Gleichnis für den Ausverkauf jedes humanen Wertes verkommen. Die Tiere sind dem Untergang geweiht. Sie werden alle nach und nach erschossen — die Schüsse kommen aus dem Publikum: So tötet Schaulust ihr Objekt.

Der Tierbändiger aber ist nicht ganz aus der Arena verschwunden. Zum knalligen Transvestiten pervertiert, hält er nun die Zuschauer in Schach. Mit der Peitsche knallt er nebenbei: Das neuzeitliche Zähmungsmittel ist das Mikrophon, durch das er show und fun und joke verspricht und mit debilem Entertainment noch den Tod als Attraktion benutzt. Er ruft martialische Geräte auf den Plan, die sich wie groteske Folterinstrumente ausnehmen und nur einer sadistischen Phantasie entsprungen sein können. Im gnadenlosen Rhythmus kreisen sie durch den Raum und ersetzen so die Lebewesen.

Der Showdown siegt so am Ende über jedes Leben: unter einem greulichen Firmament der Leichen gelingt es dem diabolischen Mikrophonhalter tatsächlich, einen Schlußapplaus herauszukitzeln. Allzu gern machen sich einige Voyeure Luft und klatschen die schwüle Bedrückung aus den Händen — andere verweigern sich dem Spiel und blicken ratlos auf die toten Kreaturen, die sich in der infernalischen Maschinerie verklemmt haben und im leeren Zirkushimmel baumeln, wo kein Gott je einen Salto schlug.

Das Spiel von RA.M.M ist aggressiv und schrill. Ein Alptraum auf des Messers Schneide: physische Verletzungen der Akteure sind nicht vermeidbar, psychische Verletzungen der Zuschauer nicht unvermeidlich, aber auch nicht ausgeschlossen — von welchem Alptraum ließe sich das schon behaupten. baal

Noch bis 20.10. täglich außer Mo und Di im Tacheles-Theatersaal, Oranienburger Str. 53-56, 1040 Berlin.