„Das war die Unterschicht“

■ Juan Madrid über die Stadt, das Geld und den Kriminalroman. Jörg Rheinländer sprach mit dem Schriftsteller

Im Augenblick gibt es

in Spanien nur wenige Vertreter des authentischen Kriminalromans. Juan Madrid ist einer von beiden“, schreibt Manuel Vázquez Montalbán über den Autor, der in der Stadt lebt, deren Namen er trägt. Doch Juan Madrid, 44, Ex-Journalist, Schriftsteller, schreibt nicht einfach Kriminalromane. Im Mikrokosmos seiner Großstadtprosa ist eine ganze Welt verborgen. Er dringt ein in die Grauzonen und zeigt die Existenzen am Rande.

Der Held seiner Romane ist einer der Gestrandeten: Antonio Carpintero alias Toni Romano haust in einer selten aufgeräumten Ein-Zimmer-Wohnung unweit der Puerta del Sol im Herzen Madrids. Er leidet unter chronischem Geldmangel, freut sich über Anzüge, die er im Sonderangebot erstehen kann, und hat wenig Glück mit den Frauen.

taz: In seinem Kriminalroman „Der Tee der drei alten Damen“ legt der Schweizer Friedrich Glauser einer seiner Hauptpersonen den Satz in den Mund, man solle nicht über den Kriminalroman lachen, er sei eine der wenigen Möglichkeiten, sich heutzutage ernsthaft mit der Wahrheit zu beschäftigen. Ist da was dran?

Juan Madrid: Ich denke, Glauser hat recht. Jeder Schriftsteller hat ja seine eigenen Gründe, aber dieser Satz gibt sehr genau meine Vorstellungen wieder. Ich will etwas erzählen, und die beste Möglichkeit, das zu tun, ist der Kriminalroman. Oder genauer: der Kriminalroman der Schwarzen Serie. Ich schreibe keine klassischen Krimis, die interessieren mich nicht. Ich schreibe novelas negras. Das heißt, ich verwende Elemente daraus. Eines davon ist zum Beispiel der Ich-Erzähler. Den habe ich von Hammett, dessen Romane ich 1976 zum ersten Mal las. Ein anderes ist die Struktur der novela negra. Sie ist ziemlich einfach, hat viel mit mündlichen Erzähltraditionen zu tun und erinnert manchmal an Märchen. Mir ist damals mit einem Mal klargeworden, daß ich die Geschichten, die ich über meine Stadt erzählen wollte, genauso schreiben mußte.

Wenn jemand sagt, daß Toni Romano ein Enkel wie Sam Spade oder Phil Marlowe ist: Freuen Sie sich darüber?

Das ist mir egal. Wirklich. Aber der Ich-Erzähler ist ein Verlierer, so wie Toni Romano, und das ist ein Charakteristikum der Literatur des 20. Jahrhunderts, nicht nur der Romane von Hammett und Chandler. Nein, ich habe viele literarische Väter. Pio Baroja etwa hat mich stark beeinflußt, der pikareske Roman. Ein Schriftsteller — oder sagen wir: ich, ich will das gar nicht verallgemeinern —, also ich bin wirklich unmoralisch, wenn ich schreibe. Ich bin wie ein Schwamm: Ich sauge einfach alles auf, was ich brauche.

In Deutschland wird der Kriminalroman nie so recht ernstgenommen. Ihm haftet immer der Makel an, keine ernsthafte Literatur zu sein...

Das ist in Spanien genauso. In Europa gibt es eine enorme intellektuelle Hochnäsigkeit. Eigentlich kann dieses Vorurteil doch keiner mehr aufrechterhalten. In Wirklichkeit gibt es nur zwei Sorten von Romanen: die guten und die schlechten. Auch ein Kriminalroman kann beides sein.

Wer ist denn nun dieser Toni Romano, der in ihren Romanen die Hauptrolle spielt?

Es ist schwer, über sein eigenes Kind zu sprechen. Ein Teil von ihm stammt aus Romanen, die ich gelesen habe; ein anderer Teil aus Romanen, von denen ich nur geträumt habe, daß ich sie gelesen hätte. Und er hat viel von all den Typen, die ich während meines ganzen Lebens gesehen habe. In der Franco-Zeit war er Polizist, und er hat den Dienst gesteckt, als die Demokratie siegte. Aber er ist kein Faschist. Romano ist ein unpolitischer Typ. Er will auf der sozialen Leiter ein Stück nach oben klettern. Toni Romano ist ehrlich zu seinen Freunden, und er praktiziert die einzig mögliche Art zu überleben in dieser korrumpierten Welt: Er versucht sich selbst gegenüber anständig zu bleiben.

Aber Toni Romano scheitert ja bei dem Versuch, sich nach oben zu arbeiten. Er ist ein „Ex“ in jeder Beziehung: Ex-Polizist, Ex-Boxer — daher stammt ja sein Pseudonym, sein bürgerlicher Name ist Antonio Carpintero. Und er schlägt sich mehr schlecht als recht durchs Leben...

Auch das ist typisch für den Roman des 20. Jahrhunderts: Er verliert den positiven Helden. Dostojewskij stand für mich am Anfang dieser Entwicklung. Aber ich könnte in der spanischen Litertur noch weiter zurückgehen. Im Don Quijote gibt es auch den Ich-Erzähler; auch er ist eher ein negativer „Held“, weil er ein Verrückter ist. Ich kann keine Sieger aus der Tasche zaubern, weil mich Sieger nicht interessieren. Mich interessieren die, die im zeitgenössischen europäischen Roman fast nie auftauchen: Verlierer, Huren, kleine Gauner, all diese Leute, die am Rande der Gesellschaft leben. Die nicht von dieser kapitalistischen Gesellschaft profitieren, sondern nur darunter leiden. Und ich zeige die andere Seite der Medaille: die Reichen, die Ausbeuter.

Meine Romane bewegen sich immer zwischen Tag und Nacht, zwischen den edlen und den heruntergekommenen Stadtvierteln. Diese Zwiespältigkeit ist es, die meine Romane trägt. Schwarz und Weiß gibt es nicht. In meinen Romanen triumphiert das Gute genausowenig, wie das Böse bestraft wird. Im Zweifelsfall ist es eher umgekehrt: Das Böse bleibt obenauf und das Gute auf der Strecke.

Toni Romano hat ja nie eine richtige Beziehung zu einer Frau, seine Bekanntschaften sind nie von Dauer...

Sind Ihre Beziehungen von Dauer?

Kommt drauf an...

Ich glaube, es ist typisch für die Zeit, in der wir beide leben, daß Beziehungen nicht von Dauer sind. Sie sind nie so lang, wie wir uns das wünschen. Die Hollywood-Filme mit den Happy-Ends, die Märchen, in denen man am Ende heiratet und glücklich ist: Die sind nicht mehr gültig. Beziehungen dauern eine Nacht. Bestenfalls bis zum Croissant am nächsten Morgen...

Apropos Frauen: Wissen Sie eigentlich, daß die meisten Frauen in Ihren Romanen zu große Brüste und volle Lippen haben? Ich glaube, es gibt nur ganz wenige Ausnahmen von dieser Regel.

(lacht) Ich will nicht sagen, daß das meine Vorlieben sind. Ich habe da gar keine: mir gefallen sie groß, mittel, klein. Und mit den Lippen ist das nicht anders. Also, vielleicht ... vielleicht habe ich das geschrieben, weil das für mich eine bestimmte soziale Klasse signalisiert. Die Frauen mit den großen Brüsten, das waren die aus meinem Stadtteil, und das war die Unterschicht. Ich sah sie als kleiner Junge singend am Fenster stehen, Wäsche aufhängen oder Blumen gießen ... vielleicht ist es das ... ich weiß nicht... (lacht)

Ihre Themen, die Art, sie aufzubereiten, die Faszination, die der Boxsport auf Ihre Hauptfigur Toni Romano ausübt ... mich erinnert das alles sehr oft an Bert Brecht...

Für meine Entwicklung war Bert Brecht sehr wichtig. Ich las ihn während meiner Studienzeit, und neben meinem Schreibtisch hängt ein Plakat von Der unaufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui. Da steht drauf: „Es ist das gleiche, eine Bank zu gründen wie eine Bank auszurauben.“ Und das war und ist für mich das Leitmotiv meiner Literatur.

Ihre Romane spielen alle in Madrid. Ist das der einzige denkbare Ort für diese Geschichten?

Ein Schriftsteller sollte über das schreiben, was er kennt. Tut er das nicht, dann merken das die Leute. So wie Faulkner über die Südstaaten schreibt — ich will mich gar nicht mit ihm vergleichen —, so schreibe ich über Madrid. Aber natürlich sind das universelle Themen. Das Dasein in den großen Städten ist viel ähnlicher, als wir das glauben. Madrid ist ganz anders und doch gleichzeitig vielen neokapitalistischen Städten in Europa oder Amerika sehr ähnlich.

Als ich 1959 zum ersten Mal nach Madrid kam, da war es schon eine Großstadt. Aber es hatte auch etwas von einem Städtchen in der Mancha. Es war voll von faschistischen Funktionären. Die Straßen waren voll mit Straßenbahnen, es gab kaum Autos. Es war, wenn man so will, eine vorkapitalistische Stadt. Heute zeigt es alle typischen Merkmale des Kapitalismus: Es ist hart, aggressiv, gewalttätig, voll von einsamen Menschen, Ängstlichen, Verrückten, Drogenabhängigen. Leben wird simuliert, und die Korruption blüht. Sie ist die Basis des Systems.

Korrupte Polizisten, skrupellose Politiker und Geschäftemacher, die nur ihren eigenen Vorteil sehen: Sind Ihre Romane eine Fotografie der spanischen Realität?

Ja. Und der deutschen auch, oder? Meine Romane sind ein Abbild der ungeheuren Bedeutung des Geldes in dieser Gesellschaft. Mein jüngstes Buch heißt Dschungel [liegt noch nicht auf Deutsch vor], und in diesem Urwald überlebt, wer am besten ausgerüstet ist. Man muß hart sein, man muß zubeißen können, sonst hat man keine Chance. Das ist ein ganz konkretes Foto von Spanien und der Zeit, in der ich lebe.

Welche Rolle spielt denn die Presse in Spanien? Früher haben Sie selbst als Journalist gearbeitet, unter anderem für 'Cambio 16‘.

Die Presse hat sich zum Schlechten verändert. Es ist nicht das Gleiche wie in Deutschland mit der 'Bild‘-Zeitung, sowas gibt es bei uns ja nicht. Das hängt damit zusammen, daß das Fernsehen sich schon eine sehr starke Position erarbeitet hatte, als bei uns endlich die Pressefreiheit eingeführt wurde.

Aber es gibt heute keine politische Analyse mehr, es gibt keine linke Kultur mehr. Und wir bekommen immer mehr von dem, das, naja, sagen wir ruhig von dem, was die 'Bild‘-Zeitung so macht: also Klatsch und Tratsch und hohlen Journalismus ohne Sinn.

Aber jetzt gibt es doch in Spanien auch eine 'Bild‘-Zeitung. Die heißt 'Claro‘, und dahinter steckt der deutsche Springer-Verlag. Hat 'Claro‘ eine Chance, in Spanien zu überleben?

Ich glaube, das wird schwer. 'Claro‘ hat eine Auflage, am Wochenende eine Million. 'Diario 16‘ hat 150.000, 'La Vanguardia‘ 300.000, ... gut die Auflage von 'Claro‘ ist nicht klein, aber ich sage es noch einmal: Das Publikum, das diese billige Zeitung kaufen könnte, das schaut in Spanien Fernsehen.

Die Spanier lesen insgesamt relativ wenig Zeitung ...

Das war in der Zeit des Franquismus so. Da wollten die Leute keine offiziellen Verlautbarungen lesen. Im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es allein in Madrid 18 Tageszeitungen. Als Franco 1975 starb und endlich neue Zeitungen und eine moderne Form des Journalismus entstand, da fingen die Spanier wieder an zu lesen. Die Entwicklung mit dem Fernsehen ... also die kann man nicht wieder rückgängig machen.

Die Zukunft der Presse sieht düster aus — was kann denn die Literatur 1991 noch?

Nichts. Absolut nichts. Gut, mir nützt sie, ich kann meine Obsessionen und meine Zweifel formulieren, meine Trauer. Ich könnte ohne Literatur nicht leben. Sie ist die letzte Stütze, die übriggeblieben ist. Gut, es gibt noch ein paar andere, aber die Literatur ist die Wichtigste.

Das klingt ziemlich resignativ.

Als ich jung war und noch Haare auf dem Kopf hatte, da bestand meine Welt aus einer Million Gewißheiten und einer Handvoll Zeifel. Jetzt, wo ich 44 bin und schon keine Haare mehr habe, ist das, was ich habe, ein klitzekleines Händchenvoll Gewißheiten und eine Million Zweifel. Ich glaube immer weniger, aber das, was ich glaube, das glaube ich viel stärker.

Die Kriminalromane von Juan Madrid (Ein freundschaftlicher Kuß, Der Schein trügt nicht, Nichts zu machen, Ein Geschenk des Hauses) sind im Elster Verlag erschienen.