Der Anwalt und der letzte Zeuge

Verteidiger Eisenberg enthüllt, wie ehemalige Grenzer von den Kommandeuren unter Druck gesetzt und Tribunale veranstaltet wurden/ Ende der Beweisaufnahme im Mauer-Prozeß  ■ Aus Berlin Thorsten Schmitz

Draußen vor der Tür des Moabiter Verhandlungssaales versuchen die Journalisten, ein gewichtiges Wort, einen wegweisenden Kommentar der Verteidiger zu erhaschen. Am Mittwoch hatten sie doppeltes Glück. „Es geht jetzt ums Ganze“, schwört der Pflichtverteidiger des Angeklagten Kühnpast: „Heute ist unsere letzte Chance, das Verfahren in eine andere Richtung zu lenken.“ Der Grund für diese Torschlußpanik liegt auf der Hand: An diesem Mittwoch wurde der letzte Zeuge gehört, die Beweisaufnahme im Verfahren um den Tod des Chris Gueffroy abgeschlossen; es sei denn, das Gericht entscheidet sich — wider Erwarten und gegen alle Vernunft —, dem bislang letzten Beweisantrag des Verteidigeres Eisenberg zu folgen und die „Zeugen“ Egon Bahr, Eberhard Diepgen, Richard v. Weizsäcker, Willy Brandt, Michail Gorbatschow usw. usf. zu laden...

Karin Gueffroy, die Mutter des in der Nacht zum 6. Februar 1989 erschossenen Chris, sitzt wieder als stumme Beobachterin mit im Saal 700. Trotz der Morddrohungen, die sie fast täglich erhält oder — denkbar auch dies — gerade deshalb. Ein gefundenes Fressen für die Fotografen: Der letzte Zeuge, Walter Schulze (Kommandeur des Grenzregiments 33), geht auf Frau Gueffroy zu und versucht ihr sein „Bedauern“ auszudrücken — Kamera ab! Mikrophon an! Dann aber verlangt Schulze von der Mutter des Erschossenen sofort dies — nämlich „Verständnis“: „Glauben Sie mir, die vier leiden auch heute noch darunter. Die sind fix und fertig.“ Mit verschränkten Armen steht Karin Gueffroy dem letzten Zeugen gegenüber, guckt ihm in die Augen. Wortlos wendet sie sich ab.

Der letzte Tag der Beweisaufnahme begann zäh. Die Prominenten-Anwälte Bossi und Ufer glänzten, wie so oft, durch Abwesenheit. Nur Johannes Eisenberg, der Mike Schmidt verteidigt, bewies aufs neue, daß er unter allen Verteidigern nicht nur der lauteste ist, sondern auch der, der am besten recherchiert, sich intensiv auf jeden Prozeßtag vorbereitet. Im übrigen ist Eisenberg auch der Anwalt, der zu seinem Mandanten ein gewisses persönliches Verhältnis entwickelt, ihn im Verfahren nicht einfach als Objekt behandelt. Während die drei anderen Angeklagten wie Salzsäulen zwischen ihren Verteidigern sitzen und diese so tun, als gäbe es die Angeklagten gar nicht, zeigt Eisenberg, daß es auch anders geht. Manchmal flüstert er Schmidt ins Ohr, lächelt ihm zu, beantwortet seine Fragen.

Der 19. April 1988

Eisenbergs Stärke ist es auch, Zeugen oder Sachverständige mit Detailwissen zu überraschen. Walter Schulze, dem letzten Zeugen, entlockte Eisenberg Aussagen, obwohl dieser zunächst auf stur geschaltet hatte. „Herr Zeuge“, fragt Eisenberg harmlos, „können sie uns berichten, was am 19. April 1988 passiert ist?“ Schulze schweigt. Dann räumt er zögernd ein: „Da wurde geschossen, weil ein ungesetzliches Passieren der Staatsgrenze erfolgt war.“ Mehr will Schulze nicht sagen. Eisenberg aber rekapituliert, was der Zeuge angeblich nicht mehr weiß: An diesem Apriltag gelang es einem Fensterputzer mit seiner Leiter nach West-Berlin zu fliehen — das, obwohl die Grenzposten Sch. und M. 17 Schuß Einzelfeuer abgegeben hatten. „Und was war nach dieser erfolgreichen Flucht?“, fragt Eisenberg schneidend. Schulze schützt fehlende Erinnerung vor, verlangt nach „Details“.

Eisenberg hat sie parat: Wenige Tage nach der erfolgreichen Flucht, zwischen dem 20. und 25. April, habe im Kinosaal des Grenzregiments eine „Verhandlung“ gegen die zwei Grenzposten stattgefunden. Auf dem Podium saßen Schulze und acht stellvertretende Kommandeure. Unten im Saal waren 700 Regimentsangehörige versammelt, die an diesem Vormittag Dienst hatten. Die beiden Grenzsoldaten trugen „schwarzen Drillich“; nach Eisenbergs Informationen eine Art „Arrestuniform“. Das zweistündige Verhör habe Züge eines Tribunals gehabt, berichtet Eisenberg. Die 700 Regimentsangehörigen hätten die beiden Grenzer angeschrien und beschimpft: „Unglaubliches Dienstvergehen! Schlamperei!“ Die Angeklagten wurden dann von Schulze degradiert und sofort in den Arrest abgeführt. Der letzte Zeuge will sich nur an Details erinnern können. Doch plötzlich bricht es aus ihm heraus: Das Tribunal habe nicht stattgefunden, weil die beiden Grenzer nicht getroffen hatten, sondern „weil sie den Grenzdurchbruch auch ohne zu schießen hätten verhindern können“. Wenn sie „nicht herumgestanden und gequatscht hätten“. Schulze: „Das konnte ich nicht gutheißen.“

Unvermittelt fragt Eisenberg, ob Schulze wisse, was „Schatulle“ bedeute. Der Zeuge windet sich: „Heute sagt mir das nichts...“ Auf Nachbohren gibt er dann aber zu: „Schatulle“ war der Tarnname des Grenzregiments 33, er, Schulze, war „Schatulle 750“. Und dann zaubert der Rechercheur Eisenberg ein Fernschreiben von 1988 hervor, darin der Befehl: „Persönlich, sofort auf den Tisch!“ In dem Telex, an das sich Schulze wie gehabt nur vage erinnern will, steht geschrieben: „Die Massenmedien des kapitalistischen Gegners zetteln eine Hetzkampagne an gegen die Deutsche Demokratische Republik. Grenzposten wurden am Brandenburger Tor mit Steinen beworfen. Zeitungen veröffentlichen Photos mit schlafenden Grenzsoldaten.“ Es sei daher „unbedingt auf die Disziplin innerhalb der Truppe zu achten“, den „Klassenauftrag zu erfüllen“, sich „nicht provozieren zu lassen“.

Widerwillig gibt Schulze zu, daß der Druck auf die Grenzsoldaten nach diesem Fernschreiben verschärft, die Disziplin „gestrafft“ wurden. Ob den Grenzsoldaten daraufhin nahegelegt wurde, lieber 150prozentig zu handeln — Schulze blockt, sagt nichts. „Keine weiteren Fragen mehr.“ Eisenberg beendet seinen Auftritt. Das Schlußwort hat Walter Schulze: Die vier Angeklagten „konnten den Grenzdurchbruch nicht verhindern, ohne zu schießen. Es tut mir dermaßen leid!“

Am Ende dieses 11. Prozeßtages verläßt der letzte Zeuge als einer der ersten den Verhandlungssaal. Draußen vor der Tür erwartet ihn bereits ein Kamerateam. Walter Schulze setzt seine Pilotenbrille auf, knöpft sein Anzugsjackett zu — und lächelt wieder.