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Freie Fahrt ohne Schikane

■ Jeder sechste Autofahrer fährt zu schnell/ WestfahrerInnen halten sich für die besseren

Berlin. Neulich vor der Ampel. Der Fahrer spielt mit dem Gaspedal, um den Motor aufheulen zu lassen. Ein anderer Wagen macht es ähnlich, und schon haben sich die beiden Autofahrer über ihr Motorengeheule darauf verständigt, ein kleines Wettrennen zu veranstalten — bis zur nächsten Ampel. Hoffentlich läuft ihnen auf der Strecke kein Kind oder eine alte Frau über den Weg, die den Spaß möglicherweise beenden könnten. Dies ist nur ein Beispiel von vielen. Die Autofahrer fahren auch ohne »Wettkampfambitionen« immer schneller. Daran hindern sie auch keine Tempo-Schilder, sei es Tempo30 oder Tempo50.

Im September ermittelte die Polizei bei ihren monatlichen Radarkontrollen, daß von rund 280.000 überprüften Fahrzeugen jedes sechste zu schnell fuhr. Außerdem ist die »unangepaßte Geschwindigkeit« Hauptunfallursache. »Die Leute fahren sowieso ihre eigenen Geschwindigkeiten. In der Regel übertreten sie die Höchstgeschwindigkeit um 10 bis 15 Stundenkilometer«, sagte ein Sprecher der Polizeipressestelle. Ein PKW sei auf der Autobahn in Charlottenburg mit 151 Stundenkilometern erwischt worden, wo Tempo 80 vorgeschrieben war. »In Treptow fuhr ein Autofahrer mit Tempo 84 an einer Schule in der Kiefholzstraße vorbei. Erlaubt waren aber nur 30 Stundenkilometer.« Die Polizei konnte keine bestimmte Personengruppe ermitteln, die zum Rasen neigt. Auch die Fahrzeugtypen gäben keine Anhaltspunkte. »Trabi- Fahrer treten genauso stark auf das Gaspedal — selbst auf schlechten Straßen«, sagte der Sprecher.

»Manche Autofahrer scheinen weder Hirn noch Verstand zu haben«, erklärte Paul Brieler, leitender Diplompsychologe des Technischen Überwachungsvereins Berlin-Brandenburg (TÜV). Die Straße sei wohl das letzte Biotop für Raser. »Die Straße ist für die Autofahrer ein Kampffeld, und das Auto muß als Agressionsabführmittel oder Potenzmittel herhalten«, sagte der Psychologe. Im Gegensatz zum Polizeipressesprecher war er der Ansicht, daß eher Männer die »Droge« Auto benötigten.

Der TÜV Berlin-Brandenburg hatte im Mai/Juni vergangenen Jahres eine Studie über Autofahrer in Berlin erstellt. Darin sollten die befragten AutofahrerInnen aus Ost- und West-Berlin sowohl ihr eigenes Fahrkönnen als auch das der anderen einschätzen. »Im Vergleich hielten sich die West-Berliner für bessere Autofahrer, als es die Ost-Berliner und die sogenannten Umsteiger seien, also Ostler, die heute ein Westauto fahren«, erklärte Brieler. Die Ostberliner Autofahrer dahingegen hielten sich selbst für schlechter. »Das drückt ein Unterlegenheitsgefühl aus, das sie durch den Kauf eines Westautos kompensieren wollen«, erklärte der Diplompsychologe. Viele Autofahrer glaubten auch, daß sie generell besser führen als die anderen. Aus diesem Sicherheitsgefühl heraus neigten die Raser eher zum Rasen.

Brieler sagte, daß im Ostteil der Stadt schneller gefahren werde als in West-Berlin. Dies bestätigte auch Karl-Heinz Hubert, Mitarbeiter des Statistischen Landesamtes Berlin. In dem Zeitraum von Januar bis April dieses Jahres seien in Ost-Berlin insgesamt 2.307 Unfälle passiert, davon seien 669 (33 Prozent) auf zu schnelles Fahren zurückzuführen. In West-Berlin waren lediglich 20 Prozent der Unfälle durch die »flotten Kutscher« verursacht.

Uta-Micaela Dürig (CDU), Pressereferentin der Senatsverwaltung für Verkehr und Betriebe, hofft nicht, daß die AutofahrerInnen ihren Wagen als »Show-Objekt« benutzen. In bezug auf die 93 noch vorhandenen Tempo-60/70-Straßen im Ostteil der Stadt versicherte sie, daß die Polizei bereits beauftragt sei, diese Strecken zu prüfen. Für den kommenden November kündigte sie erste Ergebnisse an.

Eberhard Lange, Pressesprecher des Allgemeinen Deutschen Automobilclubs Berlin-Brandenburg, zog sich auf die Straßenverkehrsordnung zurück. »Es ist so zu fahren, wie es das Gesetz vorschreibt«, sagte er. »Die Appelle an die Vernunft der Autofahrer reichen aber nicht mehr aus.« Deshalb müßten mehr Verkehrskontrollen durchgeführt werden. Er stellte auch fest, daß es zu viele Autos gebe, man könne jedoch niemandem das Autofahren verbieten.

Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und der Verkehrsclub der Bundesrepublik Deutschland (VCD) fordern eine Reduzierung des Autoverkehrs und flächendeckend Tempo30. Hannes Linck, Geschäftsführer des VCD, erklärte, daß die Verkehrsteilnehmer immer agressiver und »sportlicher« führen. Er will mehr Verkehrskontrollen und Rückbaumaßnahmen in den Straßen. Außerdem soll der Verkehrssenator flächendeckend Tempo30 einführen. Klaus Polzin, Vorsitzender des BUND, forderte, die Bußgelder für Verkehrssünder drastisch zu erhöhen. Am heutigen Samstag organisiert der BUND eine Demonstration an der Heinrich-Rau- Straße/Ecke Wittenbergstraße in Marzahn, wo am vergangenen Samstag ein neunjähriges Mädchen überfahren worden war. Sie starb kurze Zeit später an den Unfallfolgen. Auf der Straße gilt heute noch Tempo70. »Hätte hier schon Tempo30 gegolten, würde das Mädchen vielleicht noch leben«, kritisierte Polzin.

Thomas Seidel, Leiter der Pressestelle des »Vereins für engagierte Verkehrsteilnehmer«, fordert dagegen sogar die Beschleunigung auf übergeordneten Hauptverkehrsstraßen. Er findet es richtig, auf solchen Straßen 70 zu fahren. »Das Tempolimit in der Lützowstraße in Tiergarten empfanden die Autofahrer als reine Schikane, weil diese Straße den Charakter einer Durchgangsstraße hat.« Susanne Landwehr

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