TRAU KEINEM ÜBER TEMPO 30 Von Philippe André

Moment mal, „autofreie Innenstadt“, wo hatte ich das bloß gehört? War da nicht eine bundesweite Diskussion gewesen, im Sommer erst, an der auch der verbal progressive Umwelt- Töpfer teilgenommen hatte? Na, wie auch immer, jetzt haben wir Herbst, und da gibt es bekanntlich kein irgendwie zu füllendes Sommerloch mehr, in das sich Wünsche und Bedürfnisse besorgter und umweltbewußter Menschen so publicityträchtig scheinbar aufnehmen und dann als Bürgermüll endlagern lassen. Denn jetzt wird wieder in die Hände gespuckt. Und Berlin geht, wie sich das für die Kapitale gehört, mit gutem Beispiel voran. Schließlich ist das die größte Stadt im neuen Deutschland. Nirgendwo sonst gibt es mehr Menschen, Autos oder Unfallopfer. Die letzte rotgrüne Stadtregierung hatte dies erkannt und zumindest vielerorts endlich Tempo 30 eingeführt. Immerhin eine Linderung der automobilen Stadtplage. Doch nun haben wir eine Regierung, der die „Freie-Fahrt“-Lobby Berlins im Ohr sitzt und notorisch „Bleifuß“ brüllt. Was also tut der zuständige Verkehrssenator Haase? Er läßt 52 Tempo-30- Straßen in der Stadt danach überprüfen, ob die Geschwindigkeitsbeschränkung nicht vielleicht „einen Trend zu mehr Unfällen“ gezeitigt haben könnte. Ein schlechter Scherz? Keineswegs. Man kann doch nie wissen, nicht wahr. Und siehe, heraus kam überraschend ein „allgemeiner Trend zu mehr Unfällen bei Tempo 30“. Ei, wer hätte das gedacht! Nur gut im Nachhinein, daß wir nie die „autofreie Innenstadt“ realisiert haben. Denn dann hätte es nach dieser Rechnung ein Höchstmaß an spektakulären Unfällen geben müssen. Besorgter Haase will nun ganz schnell Tempo 50 wieder einführen. Die ersten vierzig Straßen sind demnächst fällig. Wann meine Kreuzberger Mariannenstraße dran ist, weiß ich noch nicht. Im Moment fahren sie — sofern kein Stau ist — zwischen 50 und 70 Kilometer in der Stunde, weil ja noch Tempo 30 gilt. Es ist erträglich, in der Regel schrecken wir des nachts nur zwei- bis dreimal hoch und nehmen kurz die Ohro-Pax-Kügelchen heraus, um zu hören, ob irgendwo Hilfeschreie zu vernehmen sind. Gilt bald Tempo 50, werden sie wie früher mit Geschwindigkeiten zwischen 70 und 90 km/h hier durchbrettern. Und wir werden wieder jeden neuen Tag mit dem demotivierenden aber nostalgischen Gefühl beginnen, man habe des nächtens eine eilige Autopsie an uns vorgenommen. Hauptstadtfeeling! Da muß man durch. Natürlich läßt sich diese unglaubliche Dümmlichkeit nicht lange durchhalten. Denn auch der größte Schwachkopf in der Stadt stöhnt mittlerweile über den chronischen Verkehrsinfarkt. In einigen Bezirken wollte man gestern bereits mit den ersten Widerstandsaktionen beginnen.

Und so könnte der Druck der Idioten-Lobby auf Berlins Regierung sich am Ende als einer der Gründe erweisen, die endlich zur Abwahl dieses in jeder Hinsicht inkompetenten Senats führen. Dann wäre der Igel mal wieder schneller gewesen als der Haase. Auch nicht schlecht!