„Ebenso viele Sklaven wie Brasilholz“

■ Am heutigen Kolumbustag kommt Papst Johannes Paul II. nach Brasilien und mitten in eine breite Geschichtsdebatte/ Produzierte die Mischung einheimischer Völker, europäischer Kolonisatoren und afrikanischer Sklaven „eine halbe Milliarde Lateinamerikaner ohne Identität“?

„Nehmen Sie bitte Ihre Bibel wieder mit, und übergeben Sie sie unseren Unterdrückern, denn diese bedürfen ihrer Sittengesetze mehr als wir.“ So begrüßten die Ureinwohner Perus Papst Johannes Paul II. 1988 bei seiner Ankunft im Andenland. Am 12. Oktober, genau 499 Jahre, nachdem Seefahrer Christoph Kolumbus auf der Karibikinsel Guanahani landtete, betritt der Papst erneut lateinamerikanischen Boden, diesmal in Brasilien.

„1492 kam zu diesem Kontinent der Tod“, erklärt der Chilene Pablo Richard, der zur Zeit an der Nationaluniversität in Costa Rica Theologie lehrt. „Der schlimmste Genozid in der Geschichte der Menschheit“ rottete 90 Prozent der Eingeborenen aus. Während die einheimische Bevölkerung in Lateinamerika und der Karibik 1492 rund hundert Millionen Menschen ausmachte, wurden im Jahre 1570 nur noch zehn oder zwölf Millionen Eingeborene gezählt. Allein in Brasilien lebten bei der Ankunft des portugiesischen Seefahrers Pedro Alvares Cabral im Jahre 1500 über fünf Millionen Indianer. Heute sind noch ganze 200.000 übrig.

Der Anblick der „Neuen Welt“ glich damals dem Paradies: „Die Inseln, die ich sah, waren wahrhaftig überaus schön, grün, belaubt und fruchtbar. Der Gesang der Vögel ist derart, daß man diesen Ort niemals verlassen möchte“, trug der begeisterte Kolumbus in sein Bordbuch ein. Doch gleich im nächsten Absatz heißt es: „Ich sage, die ganze Christenheit wird Geschäfte machen können. Von hier aus könnte man, im Namen der Heiligen Dreifaltigkeit, ebenso viele Sklaven zum Versand bringen wie Brasilholz.“

Der brasilianische Schriftsteller und Anthropologe Darcy Ribeiro wirft den Europäern vor, „die Maschinerie, die fortdauernd neue Menschenleben verschlang“, immer weiter vorangetrieben zu haben. „Als nach dem Raubbau an den Urvölkern nicht mehr genügend Arbeitskräfte übrigblieben, holten sie aus Afrika Millionen von Menschen. Noch später konnte das europäische Produktionssystem die freigewordenen proletarischen Arbeitskräfte selbst nicht mehr gebrauchen. Damit ergoß sich eine neue Welle weißer Einwanderer über Amerika.“ Ergebnis des gewaltsamen Aufeinanderprallens: „eine halbe Milliarde Lateinamerikaner ohne Identität“.

In der erzwungenen Verschmelzung liegt nach Ansicht von Brasiliens ehemaligem Minister für Bildung und Kultur die Wurzel allen Übels. Denn die „Söhne und Töchter einiger weniger Europäer und Afrikaner, die in den Bäuchen von vergewaltigten Indianerinnen heranwuchsen“, seien untreu: „Zwar wurden wir von unseren Vätern als Mischlinge abgelehnt, wir haben uns aber nie zum Volk unserer Mütter bekannt“, erklärt der Anthropologe. Die Rache für diesen Liebesentzug: Die unehelichen Neuamerikaner, so Ribeiro, seien zu den größten Unterdrückern der Indios geworden.

Die Indios sehen in dem finsteren Jubiläum zumindestens eine Chance, internationale Aufmerksamkeit für sich zu gewinnen: „Dies war keine Entdeckung“, sagt Tucano Benedito Machado, Häuptling einer Indianergemeinde am Fluß Tiquié in der Amazonasregion. „Als die Weißen ankamen, gab es hier bereits Völker mit eigener Kultur.“ Viele Vertreter von Indianerorganisationen sehen in den geplanten Feierlichkeiten einen neuen Beweis für den immer noch vorhandenen Kolonialismus. Etwas optimistischer gibt sich Marcos Terena vom stammesübergreifenden Komitee „500 Jahre Widerstand“ in Brasilien: Dies sei die letzte Möglichkeit für die Weißen, die Weisheit der Indios kennenzulernen. „Wir müssen unser Wissen mit der weißen Gesellschaft teilen und gleichzeitig einige Werte von ihr annehmen“, schlägt der Häuptling versöhnend vor.

Auch heute befinden die Indianer keineswegs in Sicherheit. In Brasilien sind bis jetzt nur ein Drittel der Reservate, die sich über 900.000 Quadratkilometer erstrecken, vermessen worden. Goldsucher dringen nach wie vor ungehindert in Indianergebiete ein, vergiften Flüssen mit Quecksilber, zerstören Jagdgründe, vergewaltigen Indianermädchen und verurteilen durch sogenannte Zivilisationskrankheiten wie Grippe und Malaria ganze Stämme zum Aussterben.

Fürsprecher der Indianer wie der Befreiungstheologe Leonardo Boff werden ebenso verfolgt wie einst der Dominikaner Bartolomé de las Casas, der 1514 in Cuba erkannte, daß „das Opfer zu Ehren Gottes ohne die Wahrung der Gerechtigkeit mit dem Blut der Armen befleckt ist“. Wegen seiner Ansichten verfiel er schon zu Lebzeiten bei Kaiser Karl V. als „Unruhestifter, Häretiker und Quertreiber“ in Ungnade. Nach seinem Tod im Jahre 1566 wurden seine Schriften verbrannt und seine Anhänger verfolgt. Der aufmüpfige Franziskaner Alsonso Maldonado zum Beispiel wurde 1583 von der Inquisition eingekerkert.

Jüngst verurteilte der Vatikan den Franziskaner Leonardo Boff zu einem einjährigen „Bußschweigen“. Die Leitung der brasilianischen Kirchenzeitung 'Vozes‘ wurde ihm entzogen. Nach jahrelangen Kämpfen gegen die katholische Kirchenhierarchie gab der 52jährige Befreiungstheologe klein bei: „Ich gebe auf“, erklärte er zu Beginn des Monats in Brüssel.

„Welche Glaubwürdigkeit kann das Christentum noch haben beim Wiederaufbau der Kulturen, die es zu demütigen selbst geholfen hat?“ fragt der Theologe. Daß Boff nicht der einzige ist, den diese Frage bewegt, zeigt der sinkende Einfluß der katholischen Kirche in Brasilien. Nur noch 76 Prozent aller Brasilianer betrachten sich heute noch als Katholiken — so das Ergebnis einer von der brasilianischen Bischofskonferenz (CNBB) in Auftrag gegebenen Studie.

Rund 16 Millionen Brasilianer und Brasilianerinnen suchen Zuflucht bei evangelischen Sekten wie der „Versammlung Gottes“, „Gott und Liebe“ oder „Universalkirche des Gottesreiches“ des selbsternannten Bichofs Edir Mecedo Bezerra. Der ehemalige Angestellte der Staatslotterie des Bundesstaates Rio de Janeiro hat bereits angekündigt, am 12. Oktober, wenn der Papst in Brasilien landet, seine Anhänger im größten Fußballstadion der Welt, im Maracana in Rio de Janeiro, zu versammeln. Astrid Prange, Rio de Janeiro