Der Meisterspion in der Sinnkrise

Markus Wolf, Chefspion und Meister seines Fachs, stellte sich und sein neues Buch in München vor/ Ein Blick zurück im Zorn, aber tatsächlich Erhellendes war nicht in Erfahrung zu bringen  ■ Aus München Wolfgang Gast

Der einstige Meisterspion der DDR ist ins Grübeln geraten. Er fragt sich: „Haben wir umsonst gelebt?“ Und etwas verlegen nach Worten suchend schiebt er nach, die Antwort auf eine so schwierige Frage könne er nicht einfach aus dem Ärmel schütteln. Im Fürstensalon des Münchner Edelhotels Bayerischer Hof trauert der ehemalige Herr über mehrere tausend Spione um die „echten Ideale“, die von einem vergreisten und unfähigen Staatsapparat in der DDR verraten und verkauft wurden. Auch das neue Buch des 68jährigen — In eigenem Auftrag · Bekenntnisse und Einsichten — gerät über weite Strecken zur Abrechnung mit Honecker, Mielke und Co. Im Gegensatz zu seinen mündlichen Ausführungen finden sich in den Musterexemplaren, die der Verlag anläßlich des „ersten internationalen Presseauftritts“ von Wolf verteilt, wesentlich präzisere Angaben über das, was der überzeugte Kommunist im letzten Jahr der real existierenden DDR als schlimme Fehler erachtete. Perestroika, schreibt Wolf, „war unsere große Hoffung auf eine demokratische Alternative im Sozialismus“. Diese Hoffung sei „zerschlagen“ worden — doch im Gegensatz zu manch einem der früheren Genossen ist er bereit, die Ursachen nicht nur im Widerstand der greisen Politbürokratei zu suchen: „Nicht schlechthin Entstellungen und Deformationen des Sozialismus, die durch Reformen korrigierbar gewesen wären, brachten das System zu Fall. Das gesamte stalinistische System, fälschlicherweise als Sozialismus bezeichnet, hat sich als nicht lebensfähig erwiesen, es wurde von den Völkern abgelehnt.“ Vor den „Trümmern eines nie real gewesenen Sozialismus stehend“, sieht sich der frühere Mielke-Stellvertreter gezwungen, auch „weiter über die gesellschaftlichen Probleme nachzudenken“.

Nach seinem spektakulären, aber wenig ergiebigen Auftritt im Prozeß gegen seinen früheren Untergebenen Harry Schütt, nutzt Markus Wolf am Donnerstag die Chance, das, was er vor Gericht nicht sagen konnte, den Medienvertretern in die Federn zu diktieren. Ungerecht sei es, wenn nun nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus nur die Agenten der einen Seite verfolgt würden. Für ihn ein klarer Verstoß gegen internationales Völkerrecht. Die DDR sei schließlich ein souveräner Staat gewesen. Weiter hadert Wolf, das Ministerium für Staatssicherheit werde nachträglich zum Buhman des repressiven, autoritären SED- Regimes stillisiert, während im Gegenzug die konkrete moralische, politische und historische Verantwortung für 40 Jahre DDR in einem großen Topf verrührt werde. Eine differenzierte Aufarbeitung sei so unmöglich. Das Eingeständnis eigener Schuld und Verantwortung bleibt indessen merkürdig abstrakt — konkrete Nachfragen über die Arbeit der Staatssicherheit bleiben reflexhaft mit dem Verweis auf das laufende Ermittlungsverfahren der Bundesanwaltschaft unbeantwortet.

Ganz nebenbei verpaßt der smarte Geheimdienstmann auch dem früheren Innenminister der DDR, Peter- Michael Diestel, einen kräftigen Seitenhieb. Diestel hat bislang immer bestritten, daß er den einstigen Spionagechef in den Auflösungsprozeß der Stasi einbinden wollte. Markus Wolf berichtet dagegen von einem Treffen „ohne peinliches Abtasten“. Die vom Minister gewünschte Zusammenarbeit bei der „Bewältigung des Stasi-Syndroms“ sei nur durch das Bekanntwerden dieses Gespräches gestört worden.