Der letzte Afrikaner in Hoyerswerda

Der dreißigjährige Ernesto Melice aus Mosambik will in der Stadt Hoyerswerda bleiben/ Der Frelimo-Mann wurde in der DDR zum Beauftragten für seine Landsleute engagiert/ Heute hat er eine ABM-Stelle und wartet auf neue Asylbewerber/ Ein Troubleshooter mit viel Erfahrung  ■ Von Annette Rogalla

In wenigen Tagen werden in Hoyerswerda wieder Menschen ihre Koffer packen, Habseligkeiten auf Containerschiffe laden und nach Vietnam oder Mosambik reisen. Dann sind nicht nur die Asylbewerber, sondern auch alle anderen Ausländer aus der sächsischen Braunkohlestadt ausquartiert worden. Einer aber bleibt. Der 30jährige Ernesto Melice aus Mosambik denkt nicht daran, aus der Stadt fortzuziehen, „schon alleine wegen der Wohnung“. Die hat er erst vor drei Monaten mit seiner Frau Ramona, 20 und gebürtige Hoyerswerdarin, und Kind Isabel, zwei, bezogen. Viel Kraft und Geld hat es gekostet, die Drei-Raum-Vollkomfort- Wohnung einzurichten. Mittlerweile ist aus 70 Quadratmetern sozialistischer Betoneinfalt ein Zuhause geworden. Mit braunem Schleiflack- Wohnzimmerschrank und passender Polstergarnitur in rotbraun. „Das ist das Minimum, das ich meiner Familie bieten will. Da gehe ich doch nicht weg“, sagt Melice. Außerdem hat er eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis und eine Arbeitserlaubnis in den mosambikanischen Paß gestempelt bekommen. Eine ABM-Stelle beim Landratsamt ist ihm sicher. In der Abteilung für Ausländer und Asylbewerber arbeitet Ernesto Melice seit August als Sozialbetreuer. Landrat Wolfgang Schmitz, CDU, holte ihn als Trouble-shooter, als die Spannungen in offene Konfrontation überzugehen drohten: zwischen den Asylbewerbern, die nachts ihre Musik aufdrehten und tagsüber in großen Gruppen vor den Häusern saßen und Palaver hielten, und den Werktätigen von nebenan. Die drei deutschen Betreuer, die seit März für die 240 Asylbewerber verantwortlich waren, wollten schon damals das Handtuch werfen. Sie verfügten noch nicht einmal über genügende Sprachkenntnisse, um sich mit den Asylbewerbern unterhalten zu können. Als Ernesto Melice kam, blieben sie, jetzt hatten sie einen perfekten Dolmetscher für Französisch, Englisch und Portugiesisch.

Der Sprachmittler zeigte sein Talent auch in harten Konfliktsituationen. Er lud zu einem Bürgerforum ein. Mit den deutschen Nachbarn des Asylbewerberheims wollte er nach Lösungen für ein streßfreieres Miteinander suchen. Doch aus der Aussprache wurde bald ein Forum der Tobsüchtigen. Minutenlang wurde der Ordnungsdezernent von den Anwohnern niedergebrüllt. Sofort müßten die Asylbewerber fortgeschafft werden, „die stinken und machen Lärm“. Und überhaupt quoll an diesem Abend soviel bräunliches Gebräu aus den Mündern der Anwohner, daß Ernesto Melice, der seine gutsitzenden Anzüge wie ein persönliches Markenzeichen trägt, seine distinguierte Haltung vergaß. „Ich habe genauso geschrien. Hab ihnen gesagt, entweder ihr ärgert euch weiter über den Lärm oder wir suchen nach Lösungen.“ Ein Moratorium von 45 Tagen konnte Melice den Nachbarn an jenem Abend abringen. Binnen dieser Zeit, versprach er, werde Ruhe einkehren. „In den ersten beiden Tagen habe ich nur mit den Asylbewerbern geredet. Habe mir ihre Sorgen angehört, ihnen erklärt, daß sie auf ihre Nachbarn, die frühmorgens um halb sechs in die Kohle fahren, Rücksicht nehmen müssen.“ Er hat ihnen gesagt, wie die Asylverfahren ablaufen und dafür gesorgt, daß ihre Kinder zur Schule gehen können, er hat aufgepaßt, daß die Treppenhäuser nicht mehr als Abstellkammern gebraucht wurden. „Nach zwei Tagen gab es nach zehn Uhr abends kaum noch Lärm. Ich habe mich gefreut, war sogar stolz, von den Asylbewerbern anerkannt zu werden.“

Rassentrennung seit Jahren

An einem Samstag vor drei Wochen hatten einige Afrikaner links und rechts ihrer vier nebeneinanderliegenden Hauseingänge sechs Plastikmülltonnen auf die Thomas-Müntzer-Straße gerollt. Kein Auto sollte mehr durchfahren können. Ihre Rufe, „Hier Afrika, fahrt zurück!“, hielten aber kaum einen Autofahrer zurück. Die meisten pochten auf ihr „Recht auf freie Fahrt“ und gaben Gas, nicht wenige fuhren gezielt auf die Afrikaner los. Als sie die Verfolgungsszenen sahen, zogen sich einige Schwarze auf die Dächer des Asylbewerberheimes zurück. Steine und Gehwegplatten hatten sie mitgenommen, wollten sie auf die brüllende Teutonenmeute in ihren Autos werfen. „Es reicht, wir wollen kämpfen“, riefen sie. „Da habe ich sie mir auf dem Dach vorgenommen“, sagt Melice und klopft kräftig auf den Tisch. „Ich habe jedem gesagt: Du kannst in deiner Heimat nicht mehr leben. Aber wer gibt dir das Recht, hier aufzutreten wie ein King? Wenn du nicht sofort runtergehst, kannst du wieder zurück nach Afrika.“ Melice diskutierte den Aufstand auf dem Dach weg.

Rasend gewordene Menschen zu beruhigen, zählt zu seinen hervorstechenden Fähigkeiten. Immer wenn es Zoff zwischen mosambikanischen und deutschen Bergarbeitern in den Gruben gab, wurde er hinzugerufen. Prügeleien, bei denen sich die Arbeiter krankenhausreif schlugen, waren nicht selten. Der erste Politkommissar der Frelimo, der Einheitspartei in Mosambik, führt kein Buch über die letzten Jahre. 1982 ernannte ihn der mosambikanische Botschafter zum Beauftragten für alle Landsleute im Cottbusser Braunkohlerevier. Mehrere tausend waren als Auszubildende gekommen, im Rahmen der „Freundschaftsverträge“, die beide Regierungen geschlossen hatten. Offiziell sollten sie in vier Jahren zu Bergleuten ausgebildet werden und anschließend als qualifizierte Kräfte den Aufbau Mosambiks vorantreiben, als einheimische Entwicklungshelfer sozusagen.

Was in den Nachrichtensendungen des DDR-Fernsehens als edle Geste der Völkerfreunschaft gerühmt wurde, war in Wirklichkeit ein gigantisches Programm zur Beschaffung billiger Arbeitskräfte. Aus Mosambik kamen 1983 etwa 2.500 Menschen, zwei Jahre später waren es bereits 10.000. Sie wurden in separaten Häuserblocks untergebracht. Oft teilten sich vier, fünf Männer ein Zimmer. „Acht bis zehn Quadratmeter hatte jeder laut Regierungsabkommen zur Verfügung“, sagt Melice. Noch vor fünf Jahren hätte die rigide Hausordnung der Wohnheime einer Jugendherberge der fünfziger Jahre zur Ehre gereicht. Punkt zehn Uhr mußten die Lichter auf den Zimmern gelöscht werden. Und an den strengen Pförtnern konnte kaum eine Frau vorbeihuschen. Damenbesuch wurde mit Strafe geahndet.

Als Sozialbeauftragter rannte er den Kombinatsdirektionen die Türen ein: „Ich hab denen immer gesagt, das ist Rassentrennung, was ihr da macht.“ Das müsse so streng sein, schließlich hätten sie auch einen Erziehungsauftrag übernommen, bekam er von einem Kombinatsdirektor in Cottbus zu hören. Die Gründungsväter der DDR hätten ihren Staat gern zu einem Hort des Internationalismus, des Zusammenlebens aller Menschen gemacht, aber sie taten nichts gegen den tiefsitzenden Rassismus.

Ausbrüche und Vorurteile

Die Enge der Heime, die strengen Reglements und motzende und nur deutsch sprechende Pförtner nahmen die Schwarzen ja noch gelassen in Kauf. Am Wochenende suchten sie das Versäumte nachzuholen. In der Disco zeigten sie ungeniert ihren Spaß am Leben, sie tanzten und flirteten. Soviel Rhythmus und Körpersprache lassen weiße Männer nachgerade lahm und flügellos auf dem Parkett wirken. Mit rollenden Hüften und geschmeidigen Bewegungen wiegt sich mancher auf den Thron des Wochenendkönigs. Sie kommen an bei weißen Frauen, und sei es nur für eine Nacht.

Seitdem Mosambikaner nach Hoyerswerda kamen, kochte die Gerüchteküche. Wer nicht alles wollte Mädchen und Frauen kennen, die vom schwarzen Mann vergewaltigt worden waren. Zwar registrierte die Kriminalstatistik der DDR vor zwei Jahren 461 Ermittlungsverfahren wegen Vergewaltigung, aber wie häufig nicht deutsche Männer angezeigt wurden, läßt sich nicht sagen. Ein Ausländer, der eine Frau vergewaltigt hatte, wurde sofort ausgewiesen. In fünf Jahren wurden drei Afrikaner ausgewiesen, zwei davon wegen Vergewaltigung.

Die weiße Frau ist auch für schwarze Männer das Objekt der Begierde. Auch für Ernesto Melice. Er erinnert sich noch, mit welcher Sehnsucht er vor zwölf Jahren seinen Schulkameraden in Maputo sagte: „Wißt ihr, wenn ich nach Europa komme, dann muß ich unbedingt ein weißes Mädchen bekommen. Das ist Nummer eins.“ Fünf Jahre lang hat er auf Ramona, 20, gewartet. Als sie heirateten, war Tochter Isabel bereits unterwegs.

Ein anderes Gerücht, ebenfalls lange vor der Wende hochgekomment, trug einiges zur permanenten Fremdenfeindlichkeit in Hoyerswerda bei. Die Ausländer aus Mosambik und Vietnam hätten einen Teil ihres Lohnes in Dollar oder Westmark bekommen, hört man noch heute. Ernesto Melice lacht sich scheckig. Nicht ein einziger Pfennig sei ihnen in konvertierbarer Währung ausgezahlt worden. „Aber etwas anderes stimmt: viele von meinen Landsleuten liefen lange vor der Wende in schicken Klamotten rum und trugen westliche Turnschuhe.“ Gekauft im Intershop in Berlin. Melice erzählt, Westler hätten bei seinen Landsleuten schwarz getauscht, in den Cafés rund um den Alex. Im Laufe der Jahre hatten einige Mosambikaner — und auch Vietnamesen — ihren festen Kundenstamm. Die Summe in DDR-Mark wurde im Briefumschlag hinterm Spülkasten auf der Toilette versteckt. Der Westler steckte diesen Briefumschlag ein und deponierte einen anderen mit der harten D-Mark. Westjeans, im Intershop für 39 Mark gekauft, gingen in Hoyerswerda unter der Hand für gut 400 DDR-Mark weg.

Ob ihres Geschäftsinns oder ob ihrer fremden Erotik — in Hoyerswerda werden Ausländer in diesen Wochen offen gehaßt. „Ich bleibe“, sagt Ernesto Melice. „Meine Familie, meine Wohnung, meine Arbeit. Das sind jetzt die einzigen Dinge, die mir wichtig sind.“ Auf die Asylbewerber, so weitere kommen werden, freut sich Ernesto Melice. Aber eine angenehme Zeit wird er gewiß nicht haben. Seine Frau wird öfter gefragt, ob sie das denn nötig habe, „das mit dem Schwarzen“. „Aber das ignorieren wir einfach“, sagt Ernesto Melice.