Arrigo Sacchi ante portas

EM-Qualifikation, Gruppe 3: UdSSR — Italien 0:0/ Die Sowjetunion braucht noch einen Punkt in Zypern/ Italien praktisch schon ausgeschieden, Trainer Azeglio Vicini vor dem Sturz  ■ Aus Rom Werner Raith

Einen „Absturz“, wie ein Rundfunkkommentator nach dem 0:0 in Moskau meinte, kann man Italiens faktisches Ausscheiden aus der Europameisterschaft beim besten Willen nicht nennen; eher schon ein kontinuierliches, konsequentes Abrutschen in immer tiefere Gefilde einfalls- und zusammenhanglosen Ballgeschiebes. „Nicht mal mehr Europa“, barmte, zu Recht, der Berichterstatter des staatlichen Fernsehens RAI, und von einem „generellen Abstieg Italiens in die zweite oder gar dritte Liga“ brummelt schon seit Monaten der 'Corriere dello Sport‘.

Dabei haben alldiejenigen, die sich heute so über die immer dichter folgenden Horrormeldungen im fußballnärrischsten Volk Europas entsetzen, durchwegs selber zum Desaster beigetragen. Seit mehr als einem Jahrzehnt wurden Italiens Fußballexperten — nach glaubhaften Eigenschätzungen zirka 56 Millionen bei einer Bevölkerung von knapp 57 Millionen — immer trunkener, was internationale Erfolge anging. Nicht nur Welt- und Europameisterschaften, die ja nur alle vier Jahre passieren, wollte man gewinnen, sondern auch und vor allem die diversen internationalen Pokale, von Landesmeister bis UEFA.

Vor zwei Jahren schafften die Italiener alle drei Europacups zusammen und hielten sich alleine schon deshalb für die kommenden Weltmeister. Doch genau die internationalen Riesenerfolge der Vereinsmannschaften waren und sind auch der Grund für den immer schnelleren Abstieg des italienischen Fußballs selbst. Die bei der WM schon vom ersten Spieltag an sichtbare Unfähigkeit, auch die besten Chancen zu nutzen, wurde bis zum Semifinalspiel dadurch überdeckt, daß auf wunderbare Weise und durch viel Schiedsrichterzuneigung am Ende der Ball doch noch ins gegnerische Tor rutschte. Dann war Schluß: Beim Elfmeterschießen zeigte sich, daß die Italiener nicht mal mehr genau wissen, wo das Tor steht.

Es rächt sich wieder einmal, daß Italiens Fußball ziemlich genauso strukturiert ist wie die Politik: eine fast einflußlose Klasse von nationalen „Entscheidungsträgern“ und eine allmächtige Schicht per Geldbeutel herrschender Lokalfürsten. So wie Ministerpräsident Andreotti und Co. Gesetze über Gesetze verabschieden und dann alles von den Großindustriellen für Makulatur erklärt bekommen, so mühte sich Nationaltrainer Azeglio Vicini verzweifelt, den einzelnen Vereinsmannschaften so etwas wie rein italienische „Achsen“ schmackhaft zu machen. Ohne Erfolg: Die von supereitlen Magnaten wie Fiat-Agnelli oder dem TV-Guru Berlusconi nach Feudalvorstellungen geführten „Squadre“ kauften nahezu ausschließlich ausländische Sturm- oder Verteidigungskader zusammen, um sich die Vereinstitel und Teilnahme an internationalen Wettbewerben zu sichern. Nationalcoach Vicini stand so vor der Aufgabe, seine Mannschaft „aus lauter Leuten zusammenzustoppeln, die in ihren Mannschaften selbst nur Beilagen zu den einzelnen Stars sind“ ('La Repubblica‘). Da diese Beilagen überdies nur zu ganz bestimmten Hauptgerichten, nämlich holländischem Athletenfußball, deutscher Strategie, südamerikanischer Ballführung paßten, sah sich Vicini des öfteren in einer Lage „wie einer, der eine Podiumsdiskussion mit elf Leuten führen muß, von denen keiner den anderen versteht“.

So mehrten sich denn auf dem Spielfeld geradezu komödiantische Szenen, etwa wenn Vialli statt in den Strafraum zu flanken, wo Mancini zum Köpfen bereitstand, den Ball zurückhaute, weil er da nach heimischer Losung einen Mann „aus der Tiefe des Raumes“ anspielen sollte. Gianni Brera, Nestor der Fußballkommentatoren des Landes, konnte nur noch „Ciao Italia, in Bitterkeit“ nachrufen.

Nun also soll wieder mal alles anders werden. Weg mit dem Trainer — das war schon nach den letzten erfolglosen Spielen bestimmt worden — und her mit einem verdienten Mannschaftscoach, Arrigo Sacchi, 51jährig, vier Jahre beim AC Milan, dort zweimal mit Cup-Gewinn erfolgreich. Die Frage wird aber weniger sein, ob Sacchi ein neues Rezept, besonders für den Angriff, erfinden kann; das Problem wird darin bestehen, ob es dem nationalen Verband glückt, die Einkäufer und Trainer der einzelnen Vereine zu einer kooperativen Arbeit zu bewegen.

Das heißt insbesondere, der ab 1993 durch EG-Gesetze eröffneten Möglichkeit zu widerstehen, noch mehr als bisher Legionäre (bis zu fünf pro Mannschaft, heute sind es drei) einzusetzen und statt dessen viel mehr auf die eigene Nachwuchsarbeit zu setzen. Die nämlich liegt nicht nur im Argen. Sie hat sich, nach den erfolgreichen Aufbaujahren der 60er und 70er Jahre (gekrönt jeweils durch die Erfolge des damaligen Trainers Bearzot), inzwischen total verflüchtigt. Immer häufiger klagen Jugend- und Schülertrainer, daß ihnen die Gemeinden nicht mal mehr Bolzplätze zum Spielen bereitstellen, in einzelnen Zweit- und Drittligavereinen gibt es nicht eine einzige komplette Jugendmannschaft. Geldmittel stehen nicht mal für den Transfer zum Nachbarverein zur Verfügung, die einst eingerichteten Sportgymnasien sind längst außer Mode.

Möglicherweise ist Arrigo Sacchi, im Gegensatz zu dem introvertierten Vicini, mehr der Mann, der den Kampf gegen die Regionalfürsten aufnehmen kann; er hat in seinem Leben schon fast alles erreicht, was sich ein Trainer wünschen kann. Und: er beherrscht besser als jeder andere die Kunst der großen Geste ebenso wie die der heimlichen Intrige. Daß er vier Jahre mit dem sprunghaften, eitlen, dreisten Silvio Berlusconi ausgehalten und seine Mannschaft dennoch dominant geführt hat, läßt für die „Azzurri“ gewisse Hoffnungen zu.

Einzige Gefahr: Sacchi ist, auch hier wie kein zweiter, ausländisch angelegten Fußball gewohnt, und vor allem, er hat immer das Beste vom Besten bekommen. Das war für Vereinsmannschaften lediglich eine Geldfrage, weil man ja fertig ausgebildete Ausländer kaufen kann. Für die Nationalmannschaft aber müßte er sich diese Besten erst selbst heranziehen, eine jahrelange Arbeit, die viel Geduld erfordert.

Geduld aber, das haben gewisse Ausfälle in seiner Milan-Zeit gezeigt, ist eine der Tugenden, die Sacchi abgeht.

Gruppe 3: UdSSR — Italien 0:0; Tabelle: 1. UdSSR 10:2 Tore/11:3 Punkte; 2. Italien 9:4/7:5; 3. Norwegen 8:4/7:5; 4. Ungarn 10:9/7:7; 5. Zypern 2:20/0:12. Restprogramm: 30. Oktober: Ungarn — Norwegen; 13. November: Italien — Norwegen, Zypern — UdSSR; 21. Dezember: Italien — Zypern