Politik zwischen Puritanismus und Pornographie

Das Drama um die Ernennung des schwarzen Richters Clarence Thomas zum Supreme Court hält die USA in Bann/ Der Kandidat wird der sexuellen Belästigung bezichtigt/ Der Beschuldigte kann sich der Unterstützung auch weißer Männer sicher sein  ■ Aus Washington Rolf Paasch

Sie sagt, er habe ihr auf der Arbeit von Männern mit ellenlangen Penissen und Frauen mit riesigen Brüsten vorgeschwärmt. Er sagt, sie habe nur eine rege Phantasie. Anita Hill sagt, er habe sie damals wiederholt gedrängt, mit ihm auszugehen. Clarence Thomas sagt, er habe zu seiner damaligen Assistentin nur ein professionelles Verhältnis gehabt.

„He said — she said“, der klassische Fall von „sexueller Belästigung“ vor Gericht. Nur daß hier im hochgewölbten „Senate Caucus Room“ des Kapitols kein Richter und keine Geschworenen zuschauen, sondern der Justizausschuß des US- Senats, die versammelte Presse — und die ganze Fernsehnation. Und daß es sich nicht um irgendeinen Chef und seine Assistentin handelt, sondern um Clarence Thomas, Kandidat für das Amt des Obersten Richters der USA — und Anita Hill, seine ehemalige Assistentin in seiner Amtszeit ausgerechnet als Chef der amerikanischen Antidiskriminierungsbehörde (EEOC).

Ob am Arbeitsplatz, im Aufzug oder in den „Call-in-Shows“ der lokalen Radiostationen, in den USA gibt es seit Tagen nur noch ein Thema: der Schaukampf des 43jährigen Berufsrichters und der 35jährigen jetzigen Jura-Professorin, die, vom FBI in einer Routineüberprüfung nach ihrem ehemaligen Chef befragt, ihn der „sexuellen Belästigung“ bezichtigte.

Seit zwei Tagen haben die Fernseh-Networks ihre Soap Operas abgesetzt und niemand beschwert sich — oder bemerkt den Unterschied. Doch selbst Hollywoods beste Drehbuchschreiber hätten sich nur mit Mühe eine Story mit soviel Drama, Sex und Politik ausdenken können.

Wo in jedem Justizdrama selbst das geschickteste Kreuzverhör nach einer Viertelstunde zur flachen Fiktion absackt, erlebt hier der Spannungsbogen stündlich neue Steigerungen. Richter Thomas emotionales Eingangsstatement schien am Freitag morgen den Fall schon erledigt zu haben, ehe Anita Hills präzise Anschuldigungen und Antworten auf die bohrenden Fragen der Senatoren die öffentliche Meinung wieder umkippen ließ. Am Abend stellte die beschwörende Verteidigungsrede des schwarzen Richters das prekäre Gleichgewicht der Glaubwürdigkeiten zum Ende des ersten Anhörungstages wieder her.

Wo in jeder amerikanischen Seifenoper Sexualität ultrahocherhitzt aber sterilisiert aus dem Bildschirm quillt, ergießen sich hier Tabubegriffe wie „Sodomie“ und „Gruppensex“ wie schleimige Sauermilch in den Senatssaal. Und das zur Hauptsendezeit vor einem Millionenpublikum. Als Senator Orrin Hatch, der rechte Republikaner aus dem Mormonenstaat Utah, bei seinen Nachfragen die obszönen Wörter in den Mund nehmen muß, scheint er sich beinahe erbrechen zu wollen. Verwirrt und verlogen irrt die Politik in dieser Posse zwischen Puritanismus und Pornographie hin und her: den extremen Polen der US- Gesellschaft und offenbar letzten Wachstumsindustrien.

Wo jeder Politthriller hinterher als Erfindung abgetan werden kann, trifft dieses realpolitische Passionsspiel so ziemlich alle rohen Nerven der US-Gesellschaft: Auf den Faktor der Hautfarbe als immer noch unbewältigtes Stück der amerikanischen Geschichte. Auf das seit dem Abflauen der feministischen Bewegung vernachlässigte Spannungsfeld zwischen den beiden Geschlechtern. Und auf das politische System selbst, dessen Blockade und Verunstaltung durch mächtige Interessengruppen und einen kommerziellen Medienzirkus in der Bevölkerung immer größeres Mißtrauen und Apathie hervorruft.

Mit der Nominierung des erzkonservativen Clarence Thomas für den Sitz des pensionierten ersten schwarzen Verfassungsrichters und Bürgerrechtlers Thurgood Marshall wollte Präsident Bush die konservative Mehrheit des neunköpfigen Gerichts weiter zementieren. Da dem erst 43jährigen Thomas die juristische Erfahrung und Qualifikation für den Posten fehlte, wurde er im Ernennungsverfahren als „Charakter“ aufgebaut. Clarence Thomas, das war der unaufhaltsame Aufstieg des armen Schwarzen aus dem rassengetrennten Süden über den Jura- Abschluß an der Elite-Universität von Yale im weißen Neuengland bis zum Supreme Court in Washington. Erst die Beschuldigungen von Anita Hill nur wenige Tage vor dem für letzten Donnerstag angesetzten Senatsvotum ließen den wie einen Luftballon aufgeblähten Charakter des Clarence Thomas jetzt zerplatzen. Und wie ironisch muß es Thomas jetzt vorgekommen sein, als Anita Hill zur Verteidigung ihrer Glaubwürdigkeit die gleichen öffentlichkeitswirksamen Strategien anwandte, die ihm seine Ernennung sichern sollten: Während ihrer Aussage am Freitag plazierte seine Anklägerin, die jüngste Tochter einer 15köpfigen schwarzen Farmer-Familie aus Oklahoma, ihre versammelten Verwandten hinter sich im Scheinwerferlicht der Kameras. Schaut her, wollte sie damit sagen, dies sind meine Charakterzeugen!

Daß sich Thomas von diesem politischen Prozeß, der ihn sorgfältig aufbaute und nun ins Nichts fallen läßt, verraten vorkommt, ist da nur allzu verständlich. In einer dramatischen Szene machte er für sein erneutes Verhör nach den jüngsten Beschuldigungen rassistische Motive verantwortlich. Sein öffentliches Verhör vor den Kameras sei „das High-Tech-Lynchen eines hochkommenden Schwarzen“, beschuldigte er die Senatoren. Und wie bei der Lynchjustiz im rassistischen Süden immer das Element der Sexualität — der Schändung weißer Frauen durch überpotente schwarze Männer — mitwirkte, so spielten auch die Beschuldigungen gegen ihn auf diese bigotten sexuellen Stereotype über schwarze Männer an. „Sie [Anita Hill] will mich dämonisieren“, beschwerte sich Thomas. Plötzlich, so muß der konsternierte Kandidat erkennen, ist er vom positiven Symbol des aus der Armut aufsteigenden Schwarzen zum negativen Symbol für „sexuelle Belästigung“ durch schwarze Männer geworden.

Ob schuldig oder nicht, ob am Ende bestätigt oder abgelehnt, ist Clarence Thomas bereits heute das Opfer eines politischen Prozesses, in dem der Charakter die Qualifikation und der Symbolwert jeglichen Inhalt verdrängt hat. Ausgerechnet seine Gegenspielerin Anita Hill liefert dafür einen weiteren Beweis.

Denn ohne diese attraktive und intelligente Anklägerin, die für diesen öffentlichen Schlagabtausch ideale Symbolfigur im Kampf gegen „sexuelle Belästigung“ — gemäßigt aber standhaft —, würde heute in den USA niemand über das Geschlechterproblem am Arbeitsplatz reden. Während die Männer im Lande nun für Clarence Thomas befürchten, daß sein Fall zum Referendum über „sexuelle Belästigung“ am Arbeitsplatz verkommt, hoffen die Frauen dank Anita Hill genau auf diese Entwicklung. „Was auch immer mit der Nominierung von Thomas geschieht“, so die Autorin Marjorie Williams in der 'Washington Post‘, „ich kann mir einfach nicht helfen, ich muß mich über diese ganze Aufregung, über diese Erziehung, die hier jeder in Sachen ,sexueller Belästigung‘ erhält, freuen.“

Für viele Frauen ist der Auftritt von Anita Hill zum kollektiven Befreiungsakt von lange unterdrückten Ängsten und Wut geworden. Der Zorn der Frauen richtet sich vor allem gegen die 14 Herren des Justizausschusses, die mit aller Macht — und männlich selbstverständlicher Ignoranz — bis zuletzt versucht hatten, Anita Hill mit ihrem Vorwurf der sexuellen Belästigung aus dem Ernennungsprozeß von Clarence Thomas herauszuhalten. Vergeblich, denn nachdem die Anschuldigungen erst einmal bei der Presse gelandet waren, gab es kein Halten mehr. Auf Druck der Öffentlichkeit hin mußte der Senat sein Votum zur Ernennung von Thomas am vergangenen Donnerstag in letzter Minute verschieben und ihm eine erneute Anhörung seines Justizausschusses zu den Vorwürfen vorschieben. Viel zu spät bemerkte der sonst so mächtige Männerklub des US-Senats, daß der legislative Prozeß in den USA gegen den zunehmenden Druck der plebiszitären TV- Demokratie keine Chance mehr hat.

Wenn die plötzliche Explosion des Themas in Tausenden von Debatten am Arbeitsplatz, in Hunderten von Fernsehbeiträgen und Dutzenden von Meinungsumfragen in den letzten Tagen eines deutlich gemacht hat, dann wie weit in den USA das Bewußtsein der Männer hinter der vorbildlichen Gesetzgebung für die Frauen hinterherhinkt. Daß alle Frauen wissen, wovon Anita Hill in ihrer Zeugenaussage sprach, während fast alle männlichen Beobachter des Dramas ihre Glaubwürdigkeit bezweifeln, erklärt die Popularität des jüngsten Buch-Bestsellers über das Kommunikationsproblem zwischen den Geschlechtern: You just don't understand.