: Die Mitte als tiefste Provinz
■ Im Zeughaus diskutierten Historiker und Politiker zweieinhalb Tage lang über die Mitte Berlins/ Bonner wollen kein Regierungsgetto an der Spree/ Berliner demonstrierten Provinzialität
Das beste an der Historiker- und Honoratiorenkonferenz, die am Wochenende im Zeughaus Unter den Linden tagte, war der Titel: »Wohin mit der Mitte?« Die Einladung ließ ein spannendes Brainstorming erwarten, eine Eröffnung der überfälligen Diskussion darüber, was mit der Mitte Berlins geschehen soll, nachdem sich der Bundestag für den Umzug an die Spree ausgesprochen hat. Es war sicher eine gute Idee der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, diese Diskussion mit einer historischen Rückschau einzuleiten. Anders als auf der Bonner Rheinaue wird der neue Regierungs- und Parlamentssitz mit viel Fingerspitzengefühl in eine geschichtsbeladene Topographie eingefügt werden müssen. Die preußischen Könige, das Kaiserreich, Hitler und die sozialistischen Hauptstadtplaner haben Spuren hinterlassen, die nicht ignoriert werden können, egal ob es um Abriß, Rekonstruktion, Umnutzung oder Neubau geht. Und sicher ließe sich aus den Zeiten, in denen die Stadtmitte zugleich Staatsmitte war, Zentrum staatlicher Administration und Repräsentation, einiges für die anstehenden Planungen lernen.
Ausgerichtet wurde die Konferenz von der professoralen Altherrenriege der »Historischen Kommission zu Berlin« (HiKo) und dem jung-dynamischen Deutschen Historischen Museum. Beide zeigten sich ganz offensichtlich überfordert. Das war besonders peinlich, weil extra einige Bundestagsabgeordnete aus Bonn angereist waren, die in dem für die Kohl- Umtopfung zuständigen Ausschuß sitzen. Die Bonner wirkten neugierig auf Berlin. Ihre Diskussionsbeiträge erweckten den Eindruck, daß in Bonn zur Zeit sehr viel intensiver und sachkundiger darüber nachgedacht wird, wie die Verlagerung der Regierungsfunktionen vonstatten gehen soll. Auch Mitglieder des Abgeordnetenhauses waren gekommen. Doch was wurde den Gästen geboten? Zuerst ein fader Eröffnungsvortrag vom Personalchef der Herlitz AG, Detlef Stronk, früher Chef von Diepgens Senatskanzlei. Er plapperte die gerade modischen Politikerphrasen über die neue Rolle Berlins in Europa gedankenlos nach. Stronk zeigte sich befriedigt über das Scheitern der Vision eines ökologischen Stadtumbaus — um an ihre Stelle die Zukunftsperspektive einer »heimlichen Hauptstadt Europas« zu setzen, die ihr Mietenproblem durch die Schaffung von Eigentumswohnungen für »Führungskräfte« löst.
Nach Stronk waren die versammelten Historiker an der Reihe, die sich gegenseitig mit papiernen und perspektivlosen, Aktualitätsbezüge möglichst aussparenden Akademievorlesungen zur Berlingeschichte quälten. Sogar dem Landeskonservator, einem der HiKo-Senioren, fielen bei der betäubend langweiligen Erstsemestervorlesung seines Kollegen Ribbe die Augen zu. Als er wieder aufgewacht war, lieferte er den Gästen eine besonders schöne Demonstration von Berliner Provinzialität: In seinem Vortrag über die Architektur der Regierungsbauten im Wandel der politischen Systeme erwähnte er die Bonner Lösungen der letzten vierzig Jahre mit keinem Wort.
Großstädtisches Niveau erreichte die Konferenz erst mit dem letzten Vortrag des Frankfurter Historikers Lothar Gall. Er erinnerte daran, daß die Ausprägung einer die Stadt dominierenden Mitte fast stets die Unterwerfung der Bürgerschaft unter eine obrigkeitliche Herrschaft zur Voraussetzung hatte. Ein demokratisches, freies Gemeinwesen repräsentiere sich nicht in einer auf eine Mitte ausgerichtete Stadtstruktur, sondern in einer Multizentralität, die ihre Vielfalt spiegele. Urbanität lasse sich nicht planmäßig erzeugen, schon gar nicht durch die künstliche Wiederbelebung eines ehemaligen Zentrums oder durch die Konzentration staatlicher Einrichtungen.
Während sich das in Berlin noch lange nicht herumgesprochen hat, scheinen die Bonner Überlegungen schon in eine ähnliche Richtung zu gehen. Der Bundestagsabgeordnete Peter Conradi, der tapfer zweieinhalb Konferenztage lang durchhielt, sagte, er könne sich kaum etwas Schlimmeres vorstellen als ein großes Parlamentarier- und Verwaltungsgetto im Spreebogen. Nur die wichtigsten Institutionen — Bundestag, Bundesrat, Bundeskanzleramt — sollten dort angesiedelt werden. Ansonsten wünsche er sich eine möglichst große Streuung der Bundeseinrichtungen im Stadtgebiet. Ähnlich äußerte sich Wolfgang Branoner, Staatssekretär für Stadtentwicklung in Berlin. Man wolle keine »Stadt in der Stadt«, strebe vielmehr eine »enge stadträumliche Integration« der Regierungsgebäude an.
Das käme auch der alten Stadtmitte zugute. Ihr Charakter als vielschichtige Geschichtslandschaft wird am ehesten gewahrt werden, wenn sie nicht neuerlich durch die Politik besetzt wird. Ihre neuerliche Funktionalisierung für Repräsentationszwecke des Staates hätte unweigerlich Beschädigungen an der historischen Substanz zur Folge. Es ist weder wünschenswert, daß demokratische Institutionen sich mit dem architektonischen Erbe der Hohenzollern schmücken, noch daß das Terrain im Eilverfahren von den Spuren der DDR-Zeit »gesäubert« wird.
Kurz vor Ende der Konferenz ließ sich der Stadtplanungssenator blicken, um sie mit einem wolkigen Schlußwort zur Philosophie der Mitte zu krönen. Auf die Idee, daß sich aus dem Konferenzmarathon vielleicht Fragen an den Senator ergeben haben könnten, waren die Veranstalter nicht gekommen — die Gelegenheit zur öffentlichen Nachfrage mußte durch lauten Protest aus dem Auditorium erzwungen werden. Die Referenten aber zeigten am Dialog mit dem Senator kein Interesse, sie waren in Gedanken wohl schon bei der geplanten Buchpublikation und der nächsten Konferenz. In Inhalt und Form der Veranstaltung Unter den Linden behauptete Berlin seinen Rang als tiefste Provinz. Michael Bienert
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