Die Belebung einer müden Begräbnisstätte

■ Der Intendant des Potsdamer Hans-Otto-Theaters, Guido Huonder, versucht die Provinzstadt aus der kulturellen Nische zu holen/ Ein multikulturelles Zentrum soll in Zukunft experimentierfreudige Berliner Theaterleute nach Potsdam locken

Potsdam. Das Potsdamer Hans- Otto-Theater hat ein motiviertes und flexibles Ensemble, einen frischen Intendanten, ein stattliches Orchester und einen guten Ruf als Erst- und Uraufführungsbühne. Nur eines hat es nicht: eine akzeptable Spielstätte.

Die Endlosdebatte um einen Theaterneubau steuert ihrem dramatischen Höhepunkt entgegen: im Dezember wird das Stammhaus in der Zimmermannstraße für anderthalb Jahre geschlossen. Der Zustand des Gebäudes ist katastrophal. Die Musiker sitzen eng gedrängt auf Holzstiegen im Orchestergraben und, wenn der Wasserpegel der Havel steigt, bekommen sie feuchte Füße. Alle Räume sind eng und verwinkelt, die Bühnentechnik »komfortarm«, das heißt, ausschließlich von Hand zu bedienen, und das Pappdach über dem Zuschauerraum zeigt ebenfalls Schwäche.

Diese Defekte sollen nun durch eine gründliche Sanierung behoben werden. Doch damit gibt es in Potsdam keinen Platz mehr für aufwendige Musik- oder Schauspielproduktionen. Wenn Ende Oktober Rusalka von Antonin Dvorak aufgeführt wird, ist das die letzte Gelegenheit für das Potsdamer Publikum, in der Stadt eine große Oper zu sehen.

Was für die Übergangszeit als Ersatz dienen muß, ist nicht sonderlich attraktiv: ein Sitzungssaal im Alten Rathaus, die zum Kino umfunktionierte Leichenhalle der psychiatrischen Klinik und — für die jugendfreien Stücke — das ehemalige Pionierhaus am Neuen Garten. Das Orchester kann in voller Besetzung — immerhin 160 Musiker — ohnehin nur in Kirchen spielen. So die Stiftung Schlösser und Gärten will, bleibt in dieser Saison auch das Schloßtheater als zeitweiliger Unterschlupf erhalten.

An Provisorien sind die Potsdamer Theaterleute gewöhnt. Auch die alte Bühne in der Zimmermannstraße war nicht für die Ewigkeit geschaffen. In dem ehemaligen Gastwirtshaus »Zum alten Fritz« hatten sie 1949 mit Goethes Faust den Spielbetrieb aufgenommen, in der Hoffnung, daß das Potsdamer Schauspielhaus am Kanal wiederaufgebaut würde. Doch die Kulturabteilung der damaligen Landesregierung wußte das zu verhindern, und 1966 wurde das im Krieg beschädigte Gebäude gesprengt. In 30 Jahren kontinuierlicher Abrisse war dies nach der Stadtschloßruine das zweite bedeutende Opfer für die neuen Ideologen, die in ihrem blindwütigen Haß alles niederwalzten, was nach Preußentum aussah.

1968 kamen die ersten konkreten Pläne für einen Theaterneubau auf den Tisch. Der Alte Markt mit der Nikolaikirche — ein imposantes Bauwerk von Schinkel — und dem Alten Rathaus sollte zum »sozialistischen Stadtzentrum« umgebaut werden. Dort, wo früher der Ostflügel des Schlosses und das Palais Barberini standen, sollte ein »Theater- und Mehrzweckgebäude« so eingepaßt werden, daß noch genügend Freifläche für Kampfdemonstrationen blieb. Im Januar 1989 fand die Grundsteinlegung für den »SED- Bunker«, wie die Potsdamer das Betongerippe später nannten, statt. Trotz heftiger Bürgerproteste hatte dieses grausige Schauspiel auch nach der Wende seine Fortsetzung. Im Sommer 1990 beschloß das neugewählte Stadtparlament — mit den Stimmen der Koalitionspartner CDU und SPD übrigens —, daß »behutsam« weiterbetoniert werden müsse. Ein Wettbewerb wurde ausgeschrieben, auf dessen Grundlage dann die Entscheidung für oder gegen einen veränderten Bau fallen sollte. Das schlagende Argument war damals, daß bei Abriß horrende Vertragsstrafen drohten. Es erwies sich nachträglich als wenig stichhaltig: im März dieses Jahres wurde der Beschluß revidiert und die monströsen Gleitkerne am Havelufer zur Zertrümmerung freigegeben. Der beteiligte Baubetrieb stellte sich als Sponsor für die Destruktion zur Verfügung — die Stadt braucht keinen Pfennig bezahlen.

Den Theaterleuten und ihrem Publikum ist damit wenig geholfen. Guido Huonder, der als neuer Intendant im August 1991 nach Potsdam kam, konnte nur vage ahnen, worauf er sich einließ. War es Zufall, daß der Magistrat gerade ihm, dem die Improvisationsgabe im Blut steckt, unter 32 Kandidaten den Vorzug gab? In Dortmund, wo Huonder zuvor als Chef des Theaters engagiert war, hatter er sich ebenfalls auf einer Baustelle wiedergefunden. Anderthalb Jahre mußte er mit seinen Künstlern die Wanderschaft durch Turnhallen und Aulen ertragen, bis endlich eine ordentliche Bühne zur Verfügung stand. In Potsdam brachte der Neue mit spektakulären Aktionen frischen Schwung in die Debatte. Mit spontanen Lesungen in den besetzten Häusern der Potsdamer Innenstadt wollte er auch auf die eigenen Quartierprobleme aufmerksam machen. Oberbürgermeister Jürgen Gramlich (SPD) teilte dem Theaterintendanten in einem bitterbösen Brief sein »Befremden« über derartige »Solidaritätsbekundungen« mit, die den »sozialen Frieden in Potsdam« gefährdeten.

Die Rangelei mit dem Magistrat hält Guido Huonder für normal. Schließlich hätte man dort noch ganz andere Probleme als den Theaterneubau. Er habe, so Huonder, eben auch ein anderes Verständnis von Demokratie: »Weniger verwaltet, sondern direkt und pragmatisch.« Aber letztlich müsse man Geduld üben und den Kommunalpolitikern, die sich mit der miserablen Finanzausstattung der Stadt plagen, Mut machen für weiträumige Planungen.

Unerwartete Hilfe bekam Huonder, von der Bundeswehr. Peter Kurth, der Verwalter üppiger militärischer Liegenschaften, hatte dem geplagten Theatermann und seinem Orchester ohne Zögern einen alten Kultursaal der Volksarmisten als Probenraum überlassen. Bis Ende 1993 haben sich die Künstler in trauter Nachbarschaft zum Bundeswehrersatzamt eingemietet. Huonder aber möchte mehr aus dem weitläufigen Kasernengelände in der Nähe der Glienicker Brücke herausholen. Ein Lagergebäude, in dem ausrangierte Armeeklamotten herumliegen, soll in gut zwei Jahren zur Music-Hall mit 500 Plätzen umgerüstet sein. Eine ehemalige Reithalle aus dem 19. Jahrhundert könnte für große Produktionen und eine verfallene Wäscherei für den Fundus und die Werkstätten hergerichtet werden. Ein multikulturelles Zentrum soll entstehen, das auch experimentierfreudige Berliner Regisseure und Theatergruppen nach Potsdam lockt. Der Theaterchef will mit kühnen Schritten die Provinzstadt aus ihrer kulturellen Nische herausreißen: »Potsdam kann doch nicht nur Begräbnisstätte sein.«

Ergänzt werden soll diese Art Kulturbetrieb durch ein neues kleines Theater. Standortentscheidungen und Vorplanungen brauchen Zeit. Deshalb hat Huonder dem Magistrat und der Landesregierung in der vorigen Woche vorgeschlagen, inzwischen ein Theaterzelt aufzustellen. Es könnte für 30.000 Mark monatlich gemietet oder für mehrere Hunderttausend Mark gekauft werden. Das ist ein Bruchteil der gewaltigen Summe von 150 Millionen Mark, die die Stadtväter für einen Theaterneubau veranschlagt haben. Grabowski