Der an den Bären denkt

■ Wie Peter Hathazy in Göttingen Wedekind inszeniert

Daß Frank Wedekinds Schwank Fritz Schwigerling oder Der Liebsstrank ausgerechnet auf einem Gut in der Nähe von Petersburg spielt, wirft doch sehr den Verdacht auf, hier sei einer mit hinterhältiger Absicht in das ureigene Milieu eines Tschechow eingebrochen, um dessen moribundes Personal dem kalten Spott der Satire auszusetzen. Wedekinds ureigene Metapher dagegen ist der Zirkus, sein Zauberwort heißt „Elastizität“: Wenn der tollkühne Mensch vom Trapez stürzt, wörtlich oder übertragen, soll ihn geistige bzw. körperliche Elastizität vor dem Genickbruch retten. Schwigerling und die Gräfin Totzky, ihres Zeichens Amazone und Tierbändigerin, sind solche Wedekindschen Helden, die immer wieder auf die Beine kommen.

Ein rundes dutzendmal wiederholt die achtzehnjährige Katharina Gräfin Totzky das vernichtende Urteil über ihren Onkel, den ihr faunengleich nachstellenden Fürsten Iwan Michailowitsch Rogoschin: „Er ist mir zu dumm!“ Da kann man nichts machen, sollte man denken. Aber der Dumme denkt nicht so. Wir wissen's ja von Horváth: „Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit als wie die Dummheit.“ Der Dumme also denkt, da muß sich doch was tricksen lassen. Und sei's mit übernatürlichen Mitteln. Fritz Schwigerling, expressis verbis als Hauslehrer für die beiden Sprößlinge des Fürsten engagiert — aber was diesen Job betrifft, so ist er nach Ansicht des Fürsten mit einer veritablen Portion Dresche bestens abgetan —, Fritz Schwigerling also, ein toller Bursche alles in allem, dem echtes Zigeunerblut durch die Adern rollt, soll dem Liebesleid Abhilfe schaffen, indem er im Keller des Hauses einen einschlägigen Trank mixt. Schwigerling ziert sich zunächst, tut's dann aber doch; verbindet ihn freilich mit mit der subtilen Auflage, der Fürst dürfe beim Genuß derselben an alles denken, nur nicht an einen Bären. Was natürlich zur Folge hat, daß der geplagte Liebende an nichts anderes mehr denken kann als an eben jenen gottverdammten Bären. Am Ende bezieht er die verdiente Lektion, und die Liebeshändel werden durchaus konventionell gelöst. Soviel zum Plot.

In Göttingen haben sich der Regisseur Peter Hathazy und der Ausstatter Uwe Oelkers an das Leichte gewagt, das bekanntlich so schwer zu machen ist — mit gemischtem Erfolg. Auf den Samowar (Tschechow!) mag Oelkers' Bühnenbild nicht völlig verzichten, es versteckt ihn aber bis kurz vor dem Schluß in einem phallisch aufragenden Kamin. Doch auch das dem Milieurealismus entgegengesetzte Extrem hat Oelkers klugerweise gemieden und des Autors barsche Verordnung ignoriert: „Auffallende Dekorationen und Requisiten, die das Auge des Zuschauers vom Schauspieler ablenken, sind unzulässig.“ Oelkers' Bühnenraum setzt sich aus zirzensischen, phallischen und bärigen Elementen reizvoll zusammen und beschränkt sich ganz auf die Farben Rot und Schwarz.

Die Titelrolle mit Bernd Kaftan zu besetzten, hat sich nicht als Glücksgriff erweisen. An der öligen Routine dieses grundverdorbenen Schauspielers scheitert Hathazys Ehrgeiz, auch in der Schauspielerarbeit unkonventionelle Wege zu gehen, den er in anderen Inszenierungen glänzend belegt hat. Die Selbstgefälligkeit eines Fritz Schwigerling und die eines Bernd Kaftan sind gänzlich verschiedener Natur. Da steht nicht jenes in allen Satteln gerechte zirzensische Universalgenie auf der Bühne, dem man notfalls auch abnimmt, daß es einem bengalischen Tiger die Drehorgel beigebracht hat — sondern nur ein eitler Fatzke.

Entschädigung dafür gibt es gleichwohl: Höchst vergnüglich ist es, dem Komiker Dieter Scheil zuzusehen, wie er die Rolle des armen Fürsten entwickelt, von der tumben Geilheit hin zur Chuzpe des verzweifelt Begehrenden, vom Wahnsinnig- Werden ob jenes fatalen Bärensyndroms in seinem überforderten Hirn hin zu der illusionären Absicht, er könne der Umworbenen gegenüber den keuschen Josef markieren, um sich für erlittene Unbill zu rächen. In Scheils Szenen hat der Abend seine unzweifelhaften Höhepunkte. Der lustige Einfall am Schluß: Nachdem der Fürst seinen Bären ausgeschwitzt hat, verläßt er die Heimsauna geschrumpft, auf eine Größe von 1,20 Meter. Gebremste Freude im Parkett. Der eigentümliche Humor von Wedekind, Hathazy & Co. ist dem konservativen Publikum des Deutschen Theaters Göttingen herzlich fremd: Es zieht in aller Regel Hofmannsthal vor. Und Tschechow. Martin Krumbholz

Frank Wedekind: Der Liebestrank. Regie: Peter Hathazy. Bühne: Uwe Oelkers. Mit Dieter Scheil, Barbara Sackl, Bernd Kaftan, Wolf List. Deutsches Theater Göttingen. Weitere Aufführungen am 17., 24., 31.Oktober.