Sowjetische Wirtschaft im freien Fall

Wirtschaftsabkommen soll heute unterzeichnet werden/ Gegen Auseinanderdriften der Sowjetunion  ■ Aus Moskau K.-H. Donath

Was passiert mit den Grenzen? Was mit der Armee? Was wird aus all dem? ... Die Liste wird kein Ende nehmen“, meinte Grigorij Jawlinsky am Rande der IWF-Tagung in Bangkok. Der sowjetische Ökonom malte aus, was in den Köpfen seiner westlichen Gesprächspartner seit langem herumspukt: die desintegrierende UdSSR als Wiederauflage von Sodom und Gomorrha: „Ich habe Angst, die Folge der Dezentralisierung wird im Blutvergießen enden.“ Damit stieß Jawlinsky auf offene Ohren.

Einige Wochen Aufenthalt in Havard haben den 38jährigen Jawlinsky zum vermeintlich kompetentesten Wirtschaftswissenschaftler Moskaus werden lassen. Mehrere Kneippkuren hatte er dem Patienten schon verschrieben. Doch der gab sich obstinat. Wenn alles gut geht, wird heute in Moskau Jawlinskys jüngstes Projekt von den Vertretern der Republiken unterzeichnet. Die ungewöhnliche Fähigkeit, stoßweise Entwürfe zu produzieren, sie zu revidieren, dann zusammenzupacken, um sie schließlich ganz fallen zu lassen, raubt dem westlichen Beobachter den Atem.

Der „Vertrag über wirtschaftliche Zusammenarbeit“ soll für einen befristeten Zeitraum — voraussichtlich drei Jahre — die auseinanderstrebenden Teile der Sowjetunion zusammenhalten. Begründet wird die Notwendigkeit mit der hohen Verflechtung der Ökonomien als Folge zentralistischer Planwirtschaft. Sollten die Republikvertreter zustimmen, folgt daraus jedoch noch lange nicht die Implementierung des Vertragsinhaltes. Denn die Parlamente der Republiken müssen auch noch ihr Jawort geben. Das wird insbesondere in der Ukraine auf Schwierigkeiten stoßen. Frühestens Anfang nächsten Jahres wäre mit einer Umsetzung zu rechnen. Solange wird die Talfahrt der sowjetischen Wirtschaft auf jeden Fall nicht aufzuhalten sein.

Das entscheidende Moment, das von mehreren Republiken moniert wurde, liegt in der nach wie vor dominierenden Rolle des Zentrums. Nur kommt jetzt ein weiterer Faktor hinzu. Die ehemalige Schaltstelle Moskau hat nach dem Putsch fast alle Druckmittel gegenüber den Republiken verloren. Schon vorher gelang es ihr kaum, in die Entscheidungen der fernen Exekutiven hineinzuregieren. Wie sollte es dann heute laufen? Das Mißtrauen gegen Moskau ist seit August eher noch gewachsen. Die Versuche der Jelzin-Mannschaft, die Nachfolge der Union anzutreten, haben vielerorts alte Ängste aufkommen lassen. Die Streitigkeiten um eine russische „Meistbegünstigungsklausel“ haben die Vorbehalte noch gesteigert. Es sieht gar so aus, als wolle auch die russische Regierung einschneidende Maßnahmen aufschieben. Schon taucht der Volksgroll auf. Gorbatschows Stern ist untergegangen und hat den Kometen Jelzin aus seiner Bahn geworfen.

Die Bedenken gegen eine Zentralbank und einheitliche Währungsunion, wie in dem Vertragsentwurf vorgesehen, sind nicht nur Auswüchse eines blinden Separatismus. Der Kollaps der Zentralgewalt hatte nämlich zur Folge, daß heute nicht einmal mehr einer vorgibt, Kontrolle über die Geldemission zu haben. Die beiden Rubelpressen arbeiten rund um die Uhr. Das einzige Limit der Geldmenge sei die begrenzte Kapazität der Druckvorrichtungen, hieß es in Moskau. Keiner überwacht mehr die öffentlichen Ausgaben. Das Haushaltsdefizit liegt bei 144 Milliarden Rubeln. Das ist sechsmal mehr als vorgesehen, und ein Ende ist nicht abzusehen.

Die Ukraine scheint daher auf einem unabhängigen Bankwesen und eigener Währung zu bestehen. Hier muß die Frage anknüpfen, ob für ein Land von der Größe Frankreichs, mit über 50 Millionen Einwohnern, der Binnenmarkt nicht ausreicht und eine eigene Wechselkurspolitik nicht viel schneller die Verzerrungen gegenüber dem Weltmarkt korrigiert. Eine Bilanz der Leistungsfähigkeit der einzelnen Republiken nach neuen Kriterien liegt noch gar nicht vor. Das bisherige Handelsvolumen zwischen ihnen, das auf künstlichen Vorgaben beruhte und Kostenfaktoren außer acht ließ, kann dafür kein Maßstab sein. Vielleicht liegt gerade die Chance einer wirtschaftlichen Sanierung auch für andere Republiken in einer vorübergehenden weiteren Abkopplung.

Jawlinsky will das auf jeden Fall verhindern. Sein letzter Entwurf soll siebenhundert Seiten stark gewesen sein. Optimale Voraussetzung zur Umsetzung.