Gasleitung „Europipe“ im Zickzackkurs

Die Diskussion über den Bau einer norwegischen Erdgastrasse durch das niedersächsische Wattenmeer nimmt eine überraschende Wendung/ Fachleute stellen die Trassenführung in Frage und warten mit einleuchtenden Alternativen auf  ■ Von Gerd Rosenkranz

Alles schien darauf hinauszulaufen, daß die unerquickliche Angelegenheit den üblichen skandalösen Verlauf nimmt: Wenn es hart auf hart kommt, geht Ökonomie allemal vor Ökologie, Geschäft sticht Naturschutz.

Die Rede ist von der „Europipe“, jener über 600 Kilometer langen Erdgasröhre, durch die der staatliche norwegische Energiekonzern Statoil die Bundesrepublik Deutschland ab 1995 jährlich mit zusätzlichen 13 Milliarden Kubikmetern Erdgas aus den Lagerstätten vor der südnorwegischen Küste versorgen will. Mitten durch die Ruhezone des „Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer“ und über ausgedehnte Salzwiesen und Vogelbrutstätten an der Ostspitze der Nordseeinsel Norderney sollte die Pipeline an die deutsche Küste und schließlich zum sogenannten Übergabepunkt in Emden geführt werden.

Was die im Widerstand vereinten Umweltverbände und die Einwohner der Inselgemeinde in den vergangenen Monaten nicht mehr schafften, besorgte jetzt ein schmales 14-Seiten-Papier mit dem Titel „Memorandum zu den Vorteilen einer Anlandung der Nordseepipeline Europipe in der Elbemündung“. Die Folgen dieses Elaborats: Die bisher vorgesehene Trassenführung mitten durch den Nationalpark steht wieder grundsätzlich zur Disposition.

Die Argumente der Autoren — eine Arbeitsgemeinschaft aus „Eduard Pestel Institut für Systemforschung“, „Planungsgruppe Ökologie“ (beide Hannover) und der „Vereidigten Nautischen Sachverständigen“ (Hamburg) — für eine neue Trasse weit östlich der bisher diskutierten Alternative sind bestechend einfach und vor allem nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch einleuchtend. Im Hinblick auf den Naturschutz wird zunächst der Sündenfall einer erheblichen Beeinträchtigung und Zerschneidung des erst 1986 eingerichteten Wattenmeer-Nationalparks vermieden. Die Trasse soll danach durch die Elbemündung im sogenannten Seitenfahrwasser zwischen Uferbereich und Hauptschiffahrtslinie nach Stade geführt werden. Die vorgeschriebene Umweltverträglichkeitsprüfung „würde mit Sicherheit zu einem positiveren Ergebnis“ führen als eine Pipelinetrasse durch die Wattgebiete des Nationalparks, heißt es im Memorandum zuversichtlich.

Von ökonomischen Gesichtspunkten her halten es die Autoren zunächst für unsinnig, die „Erdgas- Übergabestellen“ derzeit noch stärker in den Nordwestzipfel der Bundesrepublik zu verlegen, da sich mit dem Beitritt der neuen Länder der Verbrauchsschwerpunkt erheblich in Richtung Osten verschieben wird. Mit einem Übergabepunkt bei Stade ergäben sich zudem kürzere Wege für die Landpipeline zur früheren DDR-Verteilstelle bei Salzwedel. Außerdem sei es auch im Sinne der Versorgungssicherheit vernünftig, die zweite Erdgasleitung nicht wie die erste (die seit 1977 betriebene „Norpipe“) auch noch in Emden enden zu lassen. Dies könne bei einer „längerfristigen größeren Störung“, etwa durch Hochwasser oder eine Explosion, zu einer „kritischen Erdgas-Versorgungssituation nicht nur in der BRD führen“.

Ein weiteres Argument bringt insbesondere die Landesregierung in Hannover in Zugzwang: Da es erklärtes Ziel der rot-grünen Landesregierung in Hannover sei, das 650-Megawatt-Atomkraftwerk Stade baldmöglichst vom Netz zu nehmen, müsse an diesem niedersächsischen „Energielastschwerpunkt“ mit einer ausgesprochen energiehungrigen regionalen Industrie ohnehin Ersatz geschaffen werden. Ein hochmodernes, kraft-wärme-gekoppeltes Gaskraftwerk wäre da die umweltfreundlichste Lösung, schreiben die Autoren. Bisher allerdings reichen die Gasleitungskapazitäten in der Stader Region nicht aus, um ein solches Kraftwerk anzutreiben, versichert Klaus Peter Möller, Geschäftsführer des Eduard Pestel Instituts.

Schweigen im Hause Griefahn

Im Hause der niedersächsischen Umweltministerin Monika Griefahn gibt man sich angesichts der neu entfachten Debatte merkwürdig verschlossen. Die Landesregierung sei weiterhin auf der Suche nach einer „Lösung, die den Nationalpark Wattenmeer umgeht“, erklärte Griefahn-Sprecherin Barbara Mussack gegenüber der taz. Letztlich hänge es aber von dem norwegischen Staatskonzern Statoil ab, ob dieses Ziel erreicht werden könne. Statoil lehnt es nach erheblichen Planungsarbeiten für die Norderney-Trasse bisher strikt ab, nochmal von vorn anzufangen. Doktrinär könnte sich auch das Konsortium europäischer Erdgasunternehmen (vor allem „BEB Erdgas und Erdöl“ und „Ruhrgas“) verhalten, das entsprechend Lieferverträgen unter allen Umständen am Übergabepunkt Emden festhalten will.

Unterdessen gibt die Tatsache, daß sich die Memorandum-Arbeitsgemeinschaft praktisch „ungefragt“ zu Wort gemeldet und damit die Debatte neu entzündet hat, Anlaß zu mancherlei Spekulationen über mögliche versteckte Auftraggeber, zum Beispiel aus der Industrie. Immerhin ergäbe sich mit „Europipe“ eine langfristige Absicherung des Industriestandorts Stade — wo Stromfresser wie die Vereinigten Aluminiumwerke und der US-Konzern Dow Chemical residieren — über den möglichen Tod des maroden Atommeilers hinaus. Klaus Peter Möller, dessen Institut bereits energiewirtschaftliche Gutachten bearbeitet hat, weiß von keinem Auftraggeber: „Wir haben nur unsere Gedanken zu Papier gebracht.“

In Norderney selbst haben die Gegner der Wattenmeer-Trasse (das Spektrum reicht von den Grünen bis zur CDU, vom BUND bis zum Reitklub) die überraschende Wendung mit Freude zur Kenntnis genommen. Dorothea Wolf, seit dem vergangenen Wochenende Kreistagsmitglied der Grünen und aktiv in der lokalen Bürgerinitiative gegen die „Europipe“, bleibt allerdings skeptisch, ob der Kelch noch einmal an der Insel vorübergeht. Zur Skepsis besteht auch Anlaß. Denn während das Raumordnungsverfahren bei der zuständigen Bezirksregierung Weser- Ems in Oldenburg wegen unvollständiger Antragsunterlagen der Firma Statoil seit Monaten nicht in Gang kommt, versucht man in Bonn offenbar schon mal Fakten zu schaffen. Ende August wurde bekannt, daß die Bundesregierung bereits mit Norwegen über einen Europipe-Staatsvertrag verhandelt. Mehr noch: In einem Vertragsentwurf vom 23. August — ein sogenanntes „Non-Paper“ — wird Emden bereits wie selbstverständlich als Endpunkt und Übergabestelle des 600-Kilometer- Rohrs festgelegt. Das zu einem Zeitpunkt, wo die zuständige Bezirksregierung Statoil gerade dazu verdonnert hat, alternative Trassenführungen „außerhalb des Wattenmeeres umfassender darzustellen“ als bisher.

„Völlig hirnrissig“

Gerhard Schröder, rot-grüner Landesvater in Hannover, hat inzwischen angedeutet, notfalls werde er mit der norwegischen Regierung direkt über eine Trasse verhandeln, die das Wattenmeer verschont. Als Kompromißlinie diskutiert wird jetzt angeblich eine den Nationalpark nicht tangierende „Anlandung“ der Pipeline bei Wilhelmshaven, auf etwa halber Strecke zwischen Emden und Stade. Der Übergabepunkt allerdings bliebe wie geplant in Emden. Das Erdgas müßte dann „entlang einer Zickzacklinie“ (Möller) zunächst per Landpipeline nach Westen (von Wilhelmshaven nach Emden) und dann zurück nach Osten, etwa in die neuen Länder, gepumpt werden. Und das wäre unter ökonomischen Gesichtspunkten, so Möller, „völlig hirnrissig“.