Aller Atommüll soll nach Greifswald

■ Nach Greenpeace-Informationen ist an der Ostsee die zentrale Atommüllkippe Deutschlands geplant/ Weiterbetrieb westdeutscher AKWs wäre bis 2030 abgesichert/ Stimmen SPD-Länder zu?

Berlin (taz) — Die Nuklearwirtschaft tritt die Flucht gen Osten an. Um dem endgültigen Zusammenbruch der Atomentsorgung ihrer zwanzig westdeutschen Atommeiler zu entgehen, soll am Standort Greifswald ab 1992 ein gigantisches nationales Zwischenlager für abgebrannte Brennelemente und schwach- und mittelaktiven Strahlenmüll errichtet werden. Das geht aus Informationen und Dokumenten hervor, die der Umweltorganisation Greenpeace vertraulich zugespielt wurden. Die Dimension der Planungen mache Mecklenburg-Vorpommern endgültig zur „zentralen Atommüllkippe Deutschlands“, erklärte der Greenpeace-Atomexperte Heinz Laing gestern in Berlin.

Die Zwischenlagerzentrale soll nach Angaben der Umweltorganisation 10.000 Tonnen abgebrannte Brennelemente und 200.000 Kubikmeter Müll aufnehmen und schon Mitte der neunziger Jahre in Betrieb gehen. Damit könnte in Greifswald erheblich mehr Strahlenmüll verstaut werden als in allen existierenden und geplanten Lagern in den alten Bundesländern zusammen. Insgesamt wäre nach Greenpeace-Berechnungen mit diesem „Notstopfen“ die bisher völlig ungesicherte Entsorgung aller deutschen Atommeiler bis zum Jahr 2030 formal gesichert. Der Zeithorizont für die Errichtung und Durchsetzung der umstrittenen atomaren Endlager Schacht Konrad bei Salzgitter und Gorleben würde sich erheblich erweitern. Die angepeilte Atommüllzentrale geht offenbar auch weit über die Planungen hinaus, die PreussenElektra-Chef Hermann Krämer vor einigen Wochen öffentlich gemacht hatte.

Nach Angaben von Greenpeace wird der Coup nicht nur von den CDU-geführten Umweltministerien in Bonn und Schwerin und der Treuhand als Eigentümerin der Energiewerke Nord in Greifswald gutgeheißen. Auch die SPD-Bundesländer könnten sich im Rahmen des seit über zwei Jahren eingeforderten „nationalen entsorgungspolitischen Konsenses“ auf einen entsprechenden Handel mit den Atombefürwortern aus der CDU einlassen. Einzig die rot-grüne Landesregierung in Niedersachsen widersetze sich nach wie vor einem Konsens, der letztlich auch die Inbetriebnahme der Endlager Gorleben und Schacht Konrad bedeuten würde. Die Regierung in Hannover stehe allerdings unter erheblichem Druck der übrigen SPD- Länder.

Greenpeace zitierte gestern aus einem „Bewertungspapier“ der zuständigen Staatssekretäre der SPD- geführten Länder. Darin heißt es, Ziel eines nationalen Entsorgungskonsenses müsse es sein, „daß ein unvertretbarer nuklearer Mülltourismus“ in Europa verhindert werde. Eine Einigung in der Entsorgungspolitik könne den „Einstieg für einen Konsens in der Energiepolitik“ bilden, der dann „den einzelnen Energieträgern im Rahmen eines geschlossenen Konzeptes langfristig verläßlich einen eindeutigen Stellenwert zuordnet“.

Die SPD hofft offenbar, ihre alte Forderung nach einem grundsätzlichen Verzicht auf die Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente und damit den Ausstieg aus der „Plutoniumwirtschaft“ durchsetzen zu können. Dann müßten die abgebrannten Brennelemente nicht mehr zur Wiederaufarbeitung nach La Hague (Frankreich) und Sellafield (England) transportiert, sondern könnten in Deutschland direkt endgelagert werden. Die Atomwirtschaft, die die teure Wiederaufarbeitung aus ökonomischen Gründen seit einiger Zeit abstoßen will, verlangt dafür ein zentrales Zwischenlager. Die sogenannte Entsorgung und damit der Weiterbetrieb der bundesdeutschen Atommeiler wäre auf lange Sicht abgesichert.

Greenpeace halte jeden Konsens in der Entsorgungsfrage so lange für fatal, wie weiterer Atommüll produziert werde, erklärte Laing. Ein Groß-Zwischenlager als Ersatz für die Wiederaufarbeitung bedeute unter diesen Umständen lediglich den „Rückgriff auf eine neue Atommüll- Warteschleife“.

Ein Sprecher des Bundesumweltministeriums erklärte, es lägen bisher keine Anträge der Industrie auf Errichtung eines zentralen Endlagers vor. Bundesreaktorminister Töpfer habe stets erklärt, in Greifswald sollten nur die in den dortigen AKWs angefallenen Atommüllmengen gelagert werden. Der umweltpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Harald B. Schäfer, sagte der taz, wenn die Greenpeace- Informationen zuträfen, wäre dies „eine Provokation für jedermann, der den energiepolitischen Konsens will“. Man könne das Problem nicht mit einer „Entsorgung in Zwischenlagern ad infinitum“ lösen. Er werde einem Weiterbetrieb laufender AKWs über zehn Jahre hinaus nur zustimmen, wenn es „weder Neubau noch Zubau“ neuer Meiler gebe. Das könnte in einem novellierten Atomgesetz fixiert werden. Gerd Rosenkranz