„Alle ukrainischen AKWs sind unsicher“

■ Der Brand im Atomkraftwerk Tschernobyl war größer als zugegeben/ Die Kiewer schlossen Fenster und Türen/ Ukrainischer Industrieminister gab generelle Sicherheitsmängel örtlicher Atomkraftwerke zu

Berlin (taz/wps) — Victor Kladusch, der ukrainische Industrieminister, hat angesichts des schweren Atomunfalls in Tschernobyl eingeräumt, daß die Reaktoren vom Tschernobyl-Typ aus physikalischen Gründen leicht außer Kontrolle gerieten und die Sicherheitsvorkehrungen in allen ukrainischen AKWs völlig unzureichend seien. Experten gaben gleichzeitig zu, wenn der Großbrand in der Turbinenhalle des Blocks II lange und heftig genug gewesen wäre, hätte auch der Reaktor selbst in Mitleidenschaft gezogen werden können — mit katastrophalen Folgen.

Der Brand sei außerdem nur durch eine Wand von einem Meter Dicke vom Beton-Sarkophag des 1986 explodierten Reaktors IV getrennt gewesen, unter dem unzählige Tonnen strahlenden Atommülls schmoren.

Gleichzeitig kommen immer mehr Details über das Feuer in der Turbinenhalle ans Licht. Bei den Löscharbeiten habe man einen Turbogenerator des benachbarten Meilers I abschalten müssen, um genug Wasser für die Löscharbeiten zu pumpen. Der läuft jetzt nur noch mit fünfzig Prozent seiner Leistung. Das Loch im Dach der Turbinehalle ist nach Angaben der 'Washington Post‘ nicht nur 36 Quadratmeter groß, wie zunächst angegeben, sondern rund 2.500 Quadratmeter. Dutzende von Fenstern in der Halle, die mit sechs Turbinen alle drei Atomreaktoren in Tschernobyl versorgt, seien zerstört. Die Schäden seien dramatisch.

Die Löscharbeiten in Tschernobyl waren offenbar äußerst schwierig, weil gleich nach dem Ausbruch des Feuers das Licht im brennenden Maschinenraum versagte und Dunkelheit und Rauchentwicklung die Löscharbeiten zusätzlich behinderten.

Der Vizechef der Feuerwehr des Gebietes Kiew, Iwan Kozjura, sagte nach Presseberichten, das Feuer habe die vierte und höchste Gefahrenstufe gehabt. Dennoch hatten die sowjetischen Behörden das Feuer auf der untersten Stufe der achtstufigen Gefährdungsskala für Atomunfälle eingeordnet.

Samstag und Sonntag waren die Straßen im 130 Kilometer entfernten Kiew trotz des ungewöhnlich schönen und sonnigen Wetters wie leergefegt. Aus Vorsicht hatten die Menschen Fenster und Türen ihrer Häuser fest geschlossen. Die Telefonleitungen waren blockiert, über den Unfall hörte die Bevölkerung durch Gerüchte.

Yuri Scherback, Umweltminister der Ukraine, sagte, für die Ukrainer sei Tschernobyl ein Trauma. Der Druck auf die Regierung, früher als bislang geplant aus der Atomenergie auszusteigen, werde sich jedenfalls beträchtlich erhöhen. ten