Ein neues Berlin neben Berlin

■ 100.000 Wohnungen in fünf Jahren: Das Wohnungsbauprogramm des Senats ist wahnsinnig teuer und schwer zu verwirklichen/ Selbst die Verwaltung ist unsicher, ob es zu schaffen ist

Berlin. Kraftakt Wohnungsneubau: Bis 1995 will der Senat 80.000 bis 100.000 Wohnungen mit öffentlichen Geldern fördern, davon ein Großteil Sozialwohnungen — wenn, ja wenn die Finanzen und die Flächen dafür ausreichten. Über 100.000 Wohnungen fehlen nach Angaben der Bauverwaltung schon jetzt in Berlin, im Jahr 1995 wird es — den bisherigen Bevölkerungszuwachs hochgerechnet — 205.000 Wohnungen zuwenig geben. Ob dieses ehrgeizige Wohnungsbauprogramm verwirklicht wird, darauf wollen selbst Vertreter der Senatsbauverwaltung nicht wetten.

Auf einer Veranstaltung im Stadttor am Montag abend mit Senatsvertretern und Stadtplanern war Skepsis die vorherrschende Grundstimmung. Steigende Baupreise und knapper Platz stören im Westen, im Osten behindern ungeklärte Eigentumsverhältnisse, fehlende Kanalisation wie Planung den Wohnungsbau. Man werde bis 1995 auf den größeren Wohnungsbauflächen nur 30.000 bis 35.000 Wohnungen hinbekommen, schätzte Hans Claussen vom Büro ProStadt, der für den Senat die Potentiale prüfte. Hinzu kommen noch maximal 20.000 Wohnungen bis 1995 in Dachgeschossen oder in Baulücken.

Werfen wir einen Blick zurück: 35.000 Wohnungen wollte Bausenator Nagel in der letzten, dann aber vorfristig beendeten Legislaturperiode in West-Berlin bauen. Ob ihm das gelungen wäre, darf man bezweifeln. So wurden im Jahr 1989 nur 5.236 Wohnungen im Westteil der Stadt fertiggestellt, gleichzeitig wurden über 700 Wohnungen abgerissen. 1990 waren es nur noch 4.921 Wohnungen und die gleiche Zahl von Abrissen. Und im ersten Halbjahr 1991 wurden gar nur 1.577 Wohnungen abzüglich Abrisse fertig — hochgerechnet auf Ende 1993 sind das 23.000 fertiggestellte Wohnungen.

Nun wird der Bausenator mit Recht nicht müde zu betonen, daß solche Rechnungen nicht stimmen. Denn diese fertiggestellten Wohnungen seien ja jene, die der Vorgängersenat bewilligt — sprich, mit öffentlichen Geldern gefördert — hatte. Maßgeblich sei, was unter seiner, Nagels, Ägide bewilligt werde, denn die Bewilligungen von heute seien erst die Wohnungen von morgen. Aber auch nach dem derzeitigen Bewilligungsstand wird Nagel sein ehrgeiziges Wohnungsbauprogramm nicht schaffen. So wurden 1989 gut 8.000 Wohnungen bewilligt, 1990 waren es 8.500 Wohnungen, und bis Mitte Oktober 1991 sind es erst 5.000 Wohnungen — diese letzte Zahl gilt für ganz Berlin. In der Hochrechnung kommt man auf etwa 50.000 Bewilligungen bis Ende 1995, davon weniger als die Hälfte im vielgefragten Sozialen Mietwohnungsbau. Ob das besser werden wird, darf man bezweifeln. Denn der bei Investoren beliebte sogenannte 3. Förderweg — ein Programm, bei dem, kurz gesagt, der Senat den Bauherren Geld schenkt, jedoch keinerlei Mietbindung fordert — wurde zum Ende des Jahres abgeschafft. Bleibt der Senat bei seiner mieterfreundlichen Haltung dann droht 1992 womöglich ein Einbruch.

Dazu kommt, daß unter Nagel die Bewilligungen von heute doch wohl eher die Wohnungen von übernächster Woche sind. »Es gibt eine Lücke zwischen der Bewilligung und dem Bau von Wohnungen«, räumte Nagel-Vertreter Engelbert Lüdtke-Daldrup im Stadttor ein. Denn die durchschnittliche Kostenmiete im Sozialen Wohnungsbau ist inzwischen auf satte 33 Mark pro Quadratmeter gestiegen. Der Bau einer Sozialwohnung kostet inzwischen eine knappe halbe Million Mark. »Die Finanzierung des Wohnungsbauprogramms wird vermutlich den Hauptengpaß bilden«, meint Nagels Abteilungsleiter Günter Fuderholz. Deshalb übt die landeseigene Wohnungsbaukreditanstalt die an sich löbliche Praxis, Wohnungen zu möglichst niedrigen Baupreisen zu bewilligen. Mit diesen Preisen kommen die Bauherren jedoch manchmal nicht hin, so daß zeit- und geldraubend nachverhandelt werden muß. Außerdem werden gelegentlich Wohnungen bewilligt, zu denen noch keine Baugenehmigung vorliegt, oder aber wegen denen sich diverse Behörden — vornehmlich Senat und Bezirke — noch in den Haaren liegen. Obwohl sechs Monate nach der Bewilligung eigentlich Baubeginn sein sollte.

Wer nun meint, dies werde künftig einfacher, schließlich sei sehr viel Fläche in Ost-Berlin hinzugekommen, wird sich geschnitten haben. Denn dort gibt es keinerlei planerische Voraussetzungen; ein vom alten Magistrat übernommener Generalbebauungsplan mußte aufgehoben werden. In vielen Gebieten, vor allem weiter außerhalb, fehlen Kanalisation und Versorgungsleitungen — Strom, Gas, Telefon — deren Bau Milliarden kosten wird. Ebenfalls teuer wird es, Bodenvergiftungen zu beseitigen. Vor allem aber sind die Eigentumsverhältnisse vieler Grundstücke ungeklärt bis umstritten. Nur vier der 26 Wohnungsbaupotentiale, die Stadtplaner Claussen untersuchte, gehören dem Land Berlin, und bei diesen vieren ist die Abwasserfrage nicht geklärt. Die meisten der anderen Flächen sind zwischen verschiedenen Alteigentümern umstritten, oder sie werden peu a peu von der Treuhand an Privat verkauft. So erwarb beispielsweise der Westberliner Brennstoffgroßhandel Stinnes einen Großteil des relativ wichtigen Wohnungsbaupotentials in Buch.

Dabei war Ost-Berlin im Wohnungsbau führend vor dem Westteil der Stadt, solange dort noch Großsiedlungen wie Marzahn aus dem Boden gestampft wurden — freilich mit all den bekannten sozialen Folgen. Allein in den letzten fünf Jahren entstanden im kleineren Ostteil der Stadt 77.000 Wohnungen. Nach den Vorplanungen des Magistrats wurden 1990 noch 6.100 Wohnungen fertig, 1991 immerhin noch gut 3.000 Wohnungen. Aber die Umstellung auf West-Recht und West-Förderung verursachte erst einmal einen beträchtlichen Knick: Nach West-Konditionen, die immerhin schon ein halbes Jahr gelten, wurden kaum hundert Wohnungen im Ostteil der Stadt genehmigt.

Wie man das Wohnungsbauprogramm bewältigen könnte, blieb auch am Montag abend im Stadttor offen. »Die Wohnungsnot mit Nachverdichtung und mit Stadtumbau zu beseitigen, ist zu teuer, wir müssen auf Stadterweiterung setzen«, sagte Lüdtke-Daldrup. Das heißt im Klartext, daß sich Berlin — womöglich sogar mittels Trabantenstädte — nach Brandenburg ausdehnen will. »Das hieße, wir bauen ein neues Berlin neben dem alten Berlin, da wir in dem alten Berlin mit dieser real existierenden Verwaltung keinen Wohnungsbau mehr hinbekommen«, stellte die Stadtplanerin Franziska Eichstädt fest. Ein Großteil der Probleme — von den ungeklärten Eigentumsverhältnissen bis zur fehlenden Kanalisation — sind jedoch in Brandenburg die gleichen wie im Ostteil Berlins, ganz abgesehen davon, daß die Brandenburger wohl gefragt werden möchten. Eva Schweitzer

Zum Thema Wohnungsbau findet heute um 18.30 Uhr im Stadttor (U- Bahnhof Schlesisches Tor) eine weitere Diskussion mit Senatsbaudirektor Hans Stimmann statt.