GASTKOMMENTAR
: Kinderklau als Zeitzeichen

■ Zum internationalen Geschäft mit Kindern

Stellen Sie sich vor: Sie kommen ins Schlafzimmer und Ihr Kind ist weg... Diese Schockerfahrung machen gegenwärtig asylsuchende Migrantenfamilien in Deutschland. In die Besorgnis über den wachsenden Fremdenhaß allerorten in Deutschland mischt sich nun der Schrecken, daß Kinder skrupellos, als wären sie eine Sache, zu einer heißen Ware gemacht werden. Ist denn so etwas möglich, hierzulande, heutzutage? Und was hat es zu bedeuten? Daß die Fälle auch an die weitverbreitete und unbewußte Phantasie rühren, wir seien nicht die Kinder unserer Eltern und als Baby möglicherweise vertauscht worden — Freud hat dies den neurotischen Familienroman genannt — trägt zu unserer emotionalen Irritation bei, ist aber für ein Verständnis nicht ausreichend.

Kindesentführungen, Kinderhandel und -verkauf verweisen vielmehr auf die verschärften sozialen Konflikte, die Zunahme der Armut in den zusammengebrochenen staatskommunistischen Gesellschaften ebenso wie an den Rändern unserer eigenen Gesellschaft. Noch in diesem Jahr sind über 20.000 rumänische Kinder ins Ausland adoptiert worden; und nur langsam gelingt es, dort den Kinderhändlern das Handwerk zu legen. Jetzt weichen diejenigen, die sich mit dem Kindergeschäft eine schnelle Mark versprechen, auf die Flüchtlinge und Migranten, die sich nach Deutschland gerettet haben, aus.

Daß aber Kinderhandel überhaupt erneut zu einem Geschäft hat werden können, hängt nicht zuletzt mit der großen Nachfrage zusammen, die von der wachsenden Gruppe der kinderlosen Paare in den reichen Ländern ausgeht. Während insgesamt die Geburtenrate weiter fällt und die Motivation, ein Kind zu haben, in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften abnimmt, glauben offenbar eine wachsende Anzahl von Frauen und Männern, koste es, was es wolle, sich ein Kind beschaffen zu müssen. Dieser Trend selbst ist eine kulturelle Neurose. Daß hierzulande Kinder entführt, erpreßt und verkauft werden, wirft zugleich ein Licht auf die noch beunruhigendere Tatsache, daß Kinder in den nicht entwickelten Ländern, der armen Welt massenhaft ausgebeutet, als Sklaven und Prostituierte verkauft werden, hungern, ohne Medikamente täglich zugrunde gehen, keine Rechte und keine Zukunft haben. Daß Kinder nun sichtbar hierzulande auf dem Markt einer zunehmend kinderlosen Gesellschaft gehandelt werden, macht deutlich: Wir sind keine Insel der Zivilisation, in der die Menschenrechte der Freiheit und Unverletzlichkeit der Person jedenfalls gelten. Die sich in Arm und Reich zunehmend spaltende Weltgesellschaft schlägt auf uns zurück. Wer über die universelle Waren- und Konkurrenzgesellschaft nicht sprechen möchte, soll über die armen Kinder schweigen. Reinhart Wolff

Der Autor ist Rektor der Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik Berlin und Mitbegründer des Berliner Kinderschutzbundes