Moskau führt die Niederlassungsfreiheit ein

■ Das jahrzehntealte Zwangssystem der Zuzugsberechtigung wurde für verfassungswidrig erklärt/ Doch Wohnungsnot und eine katastrophale Wirtschaftssituation lassen die neue Freizügigkeit zum sozialen Konfliktstoff werden

Berlin (wps/taz) — Auf den ersten Blick war es nichts weiter als ein Stempel im Paß. Faktisch jedoch bestimmte er das gesamte Leben eines Sowjetbürgers, machte sie zur Manövriermasse für staatliche Produktionspläne: Per Zuzugsberechtigung entschieden bislang die sowjetischen Behörden, in welcher Stadt und in welchem Dorf seine BürgerInnen leben und arbeiten mußten.

Montag nun beschlossen die Mitglieder des Verfassungsausschusses, daß das Zwangssystem verfassungswidrig sei. Ein entsprechendes Gesetz, so Sergei Alexeyev, Vorsitzender des Ausschusses, der zur Zeit als Verfassungsgericht fungiert, soll am 1. Januar 1992 in Kraft treten. Wer sich in Moskau oder St. Petersburg ein Haus oder Apartment kaufen will, braucht ab sofort keine Zuzugsgenehmigung mehr vorzuweisen.

Was Alexeyev mit Pathos und Verve als „Schande für unser Land“ und Relikt „einer feudalen Ordnung“ bezeichnete, geht auf die Repressionspolitik Stalins zurück: Mit dem „Propiskas“-System sollten vor allem die Bauern daran gehindert werden, dem trostlosen Leben der Kolchosen zu entfliehen und in die Städte zu ziehen. Wer sich trotzdem auf den Weg in die Stadt machte, dessen Leben spielte sich in der Illegalität ab: Ohne Zuzugsberechtigung gab es keine Zuteilung einer Wohnung, keine legale Arbeit, keine Lebensmittelmarken. Freizügigkeit war auf diese Weise unmöglich, Familien blieben getrennt.

Doch auch dieses Instrument der sozialen Kontrolle ließ sich nicht perfektionieren, sondern wurde zumindest von denjenigen mit Gespür für marktwirtschaftliche Mechanismen unterlaufen: Eine Zuzugsberechtigung für solch begehrte Wohnorte wie Moskau wurde dann erteilt, wenn man einen Bürger dieser Stadt ehelichte. Folglich florierte Über Jahre hinweg das Schwarzmarktgeschäft mit Scheinehen. Gegen Bares gaben Einheimische einem Neuankömmling das Jawort und ließen sich wenig später wieder scheiden.

Mit der neuen Freizügigkeit hoffen die Ausschußmitglieder, eine Grundlage für einen freien Arbeitsmarkt geschaffen zu haben. Daß dieser Schritt jedoch auch ein bislang nicht abschätzbares Konfliktpotential in sich birgt, zeigte nicht zuletzt jene Zeltstadt von Flüchtlingen, die sich bis Ende letzten Jahres auf dem Roten Platz etabliert hatte — und dann schließlich geräumt wurde. In Holzverschlägen und Zelten hatten sich vor dem Kreml Flüchtlinge aus Armenien, Obdachlose und Entlassene aus der Psychiatrie niedergelassen. Blanke Not, Verfolgung oder die Angst vor Nationalitätenkonflikten hatte sie in die Hauptstadt getrieben — ohne daß sie im Traum daran gedacht hätten, sich vorher um eine Zuzugsberechtigung zu bemühen.

Auf rund eine Million wird inzwischen die Zahl der Flüchtlinge geschätzt, die innerhalb der Sowjetunion auf Wanderung sind. Angesichts dramatischer Wohnungsnot und einer maroden Wirtschaft können ihnen die Behörden weder Unterkunft noch Arbeitsplätze bieten — eine Perspektive, die vielen Migranten in der Sowjetunion die Freude über die neue Bewegungsfreiheit schnell vergällen könnte. Andrea Böhm