: Blonde Haare, blaue Augen
Mit Plastikembryos und „Mama-Briefen“ heizen organisierte AbtreibungsgegnerInnen die §-218-Debatte an/ Buch der Koordination gegen den §218 klärt über „Lebensschützer“ auf ■ Von Ulrike Helwerth
„22. Juni 1991. Heute hat mein Leben begonnen. Doch meine Eltern wissen es noch nicht. Ich bin noch kleiner als ein Apfelkern, aber schon unverwechselbar ich. Es ist jetzt klar: Ich werde ein Mädchen sein — ein Mädchen mit blonden Haaren und blauen Augen.“ — kleine Kostprobe aus einem „Brief“, der mir kürzlich auf den Schreibtisch flatterte und derzeit offenbar auch andere Redaktionen, Abgeordnetenbüros, Kirchengemeinden, Beratungsstellen, ärztliche Praxen und Privathaushalte heimsucht. Beigefügt ist dem Schrieb „An meine Mama, die ich nie gesehen habe“, ein Embryo — aus rosa Weichplastik. Original- Nachbildung eines „3-Monats-Babys“, wie der Absender der Warensendung, „Die Deutschen Konservativen“ e.V., versichert. „Lieber Freund der Deutschen Konservativen, ich schwöre bei Gott, daß dies die Wahrheit ist und nichts als die reine Wahrheit“, heißt es im Begleitschreiben.
Deutschland, Deutschland über alles
Dann folgen Schauergeschichten über Abtreibungsmethoden, die sich lesen wie mittelalterliche Folterungen: „Nach der 16. Lebenswoche wird Gift in die Fruchtblase gespritzt. Das Kind schluckt dieses Gift. Unter heftigen Zuckungen verbrennt es buchstäblich bei lebendigem Leibe. Diese Folter bis zum Tod dauert mehr als eine Stunde. Innerhalb von 24 Stunden bringt die Mutter ein totes Kind zur Welt, dessen Haut völlig verbrannt ist.“ In Deutschland, steht da, würden mehr Kinder ermordet als zu Herodes Zeiten. Es sei, als habe „Satan persönlich die Hand im Spiel“. Und: „Politiker und Medien haben bewußt eine offene Aufklärung unterlassen. Sie halten es nicht für zumutbar. Sehr wohl zumutbar ist aber das Zeigen der schrecklichen KZ-Opfer — und das seit 50 Jahren.“
Unterzeichnet ist das Traktat von Joachim Siegerist. Obwohl der 44jährige ehemalige 'Bild‘-Journalist in dem gerade erschienen Buch Vorsicht Lebensschützer (Herausgeberin: die Bundesweite Koordination gegen den 218) nicht auftaucht, ist er in der Rechts-außen-Szene durchaus kein Unbekannter. Joachim Siegerist ist Vorsitzender der „Deutschen Konservativen“, eine Abspaltung oder Umbenennung der „Konservativen Aktion“. Aufsehen und Ärgernis erregte er mit seinem Willy- Brandt-Buch Verbrecher und andere Deutsche, das ihm eine saftige Geldstrafe wegen Verleumdung einhandelte. Anfang der 80er Jahre war er maßgeblich verantwortlich für die „Bürgeraktion Demokraten für Strauß“, eine Wählerinitiative rechts von der CSU; zu den Bundestagswahlen 1990 kandidierte er für eine Gruppe „Konservativer“ in Leipzig. Im Januar 1987 präsidierte er dem II. Kongreß der „Deutschen Konservativen“ in Helgoland. Auf dem Programm standen unter anderem: Absingen des Deutschlandliedes mit allen drei Strophen, eine Diskussion „Freiheit für Rudolf Heß“ und ein Round-Table zum Thema „Deutschland, Deutschland über alles — und was wir damit meinen“. Mit von der Partie: Adelgunde Mertensacker, Mitglied in der einstigen Führungsriege der „Deutschen Zentrumspartei“ (Zentrum), die sich 1984 zu den Europa-Wahlen als erste eigenständige LebenschützerInnen-Partei etablierte.
1988 gründete die ehemalige Musikprofessorin mit anderen Ex-Zentrums-Leuten die „Christliche Mitte“ (CM). Ebenfalls auf dem Podium dabei: CM-Vorstandsmitglied Pfarrer Winfried Pietrek, der für die katholisch-fundamentalistische „Aktion Leben“ gern auf Knien vor Abtreibungseinrichtungen herumrutscht — mit einem großen Holzkreuz auf dem Rücken, auf dem ein in Kunstharz gegossener fünfmonatiger Embryo genagelt ist.
Die CM spricht sich in ihrem Grundsatzprogramm unter anderem gegen „Konkubinat“, „Kuppelei“, „Homosexualität“ und „Emanzipation auf Kosten von Kindern und Familie“ aus, für „Familienwahlrecht“, „Rückkehr zum Schuldprinzip im Scheidungsrecht“ und „Pflege fraulicher und mütterlicher Eigenschaften“. Sie führt den „Kampf gegen das größte Verbrechen unserer Zeit“, den „Kindermassenmord“, ist gegen Gesamtschulen und Sexualkunde, Jugendpolitik soll „Leistungswillen und Gemeinsinn, Selbstdiziplin, Einsatz- und Opferbereitschaft fördern“. Bei den Bundestagswahlen 1990 kandidierte die CM in sieben Bundesländern und erhielt insgesamt 36.446 Stimmen.
Die CM begann auch als erste das Geschäft mit den Plastikembryos. In der Juni-Ausgabe ihres monatlich erscheinenden 'Kurier‘ wurde zum „Sonderangebot von nur 6 DM in Briefmarken“ für die Nachbildung „eines ungeborenen 9-Wochen-Kindes in Orginalgröße frei Haus“ geworben. Die „Deutschen Konservativen“ hingegen verschicken die „Baby-Puppe“ nebst „Mama- Briefe“ inzwischen schon gratis. Verbunden mit der nachdrücklichen Bitte um „wirklich großzügige Spenden“. Damit das Propagandamaterial, rechtzeitig zur §218-Debatte im Bundestag, im großen Stil „auf die Reise“ geht. Planziel: eine Million innerhalb eines Monats.
„Baby-Puppe“ für sechs Mark frei Haus
Praktische Tips fürs Mitmachen für jedefrau und jedermann gibt es unter der Hamburger Telefonnummer 2295212 — „damit das schreckliche Blutbad in Deutschland endlich beendet wird“. Joachim Siegerist ist selbst am Apparat. Ich melde mich als Mutter von drei Kindern, angeblich schwer erschüttert durch den „Plastikembryo“. „3-Monats- Baby“ korrigiert er gleich väterlich- streng. Eine „ganze Palette“ könne ich tun: Jede Menge „Aktionspäckchen“ bei ihm bestellen und dann, auf eigene Kosten, innerhalb meiner Stadt verschicken oder verteilen: vor „Abtreibungskliniken“, vor den Praxen „der Mord-Ärzte, die wir Ihnen nennen“, vor Schulen, Parteibüros, Universitäten, vor den Geschäftsstellen von „Pro Familia“. „Wenn Sie sich das alleine nicht trauen, können Sie ja Ihre Familie mitnehmen“, so der aufmunternde Rat. Ganz wichtig seien auch die Medien, wiederholt der Kenner des Metiers: „Negative Berichte sind kein Problem, wichtig ist, daß die Öffentlichkeit von uns erfährt.“
Zielgruppe sind aber auch FreundInnen und Bekannte. Denn wer einmal „diese Puppe, die schon aussieht wie ein kleiner Mensch“, in der Hand gehalten habe, werde „nicht mehr gedankenlos dem Babymord das Wort reden und ohne weiteres abtreiben“, verspricht Joachim Siegerist mit pastoraler Stimme. Gegenüber Hartgesottenen empfiehlt er folgende Argumentation: „Wissen Sie eigentlich, daß diese kleinen Wesen lebend zur Welt kommen, Arme und Beine bewegen, dann aber mit Zangen zerquetscht werden oder in die Zerstückelungsmaschine kommen, schließlich im Plastiksack landen?“
Der Schrieb „An meine Mama, die ich nie gesehen habe“, endet mit den Sätzen: „16. September 1991. Mama, warum hast Du das getan? Warum hast Du zugelassen, daß sie mein Leben nahmen? Wir hätten es doch so schön zusammen haben können. — darunter steht in krakeliger Kinderschrift: „Deine Anja“.
Zum Weiterlesen sehr zu empfehlen: Frauen gegen den § 218 Bundesweite Koordination (Hrsg.), Vorsicht Lebensschützer · Die Macht der organisierten Abtreibungsgegner Konkret Literatur Verlag, Hamburg 1991, 240 Seiten, 25 DM.
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