Kein Geisterschrei mehr im Schloß am Wannsee?

■ Senatssparpläne: 37 Schullandheime sollen privatisiert werden/ Ein Beispiel: Das Kinderparadies am Wannsee würde für viele Eltern unbezahlbar

Zehlendorf. »Huuaaiiiihh!« Niemand beherrscht den Geisterschrei so gut wie Ingrid Titius, die 55jährige Leiterin des Schullandheims Wannsee. Wahrscheinlich macht das die Übung. So viele Male schon hat sie abends mit den ihr anvertrauten Kindern im »Kaminzimmer« gesessen und das Lied vom »Ritter Hadibrand« vorgetragen: »So kam der Spuk nun jede Nacht, hat an dem Ritter sich geracht. Da half nicht Geld noch Zauberkunst, stets kam und heulte das Gespunst — huuaaiih!«

Jetzt aber ist Frau Titius selbst zum Heulen zumute, weil sich ein Spuk anderer Art wiederholt: Das dem Bezirk Schöneberg unterstehende Schullandheim soll im Rahmen der Sparpläne des Senats privatisiert und die sieben Stellen des Personals gestrichen werden. Und nicht nur das: Nach einer Senatsvorlage vom 8. Oktober sollen insgesamt 37 Berliner Schullandheime privatisiert werden und 92 Stellen dem Rotstift zum Opfer fallen. Schon im Jahre 1986, so erinnert sich die Heimleiterin, wollten die Senatsbürokraten das idyllische Grundstück am Sandwerder und weitere sechs Westberliner Heime privatisieren, doch die Pläne mußten nach massiven Protesten aufgegeben werden.

Wenn sich damals das Bürokratendenken durchgesetzt hätte, wäre eines der schönsten und gleichzeitig billigsten Schullandheime für Kinder ärmerer Eltern unerreichbar geworden. Während in anderen Häusern pro Tag und Kind zwischen 15 und 30 Mark verlangt wird, kostet nämlich der Aufenthalt in den beiden romantischen Villen am Ufer des Wannsees nur 9,50 Mark — ein Tagessatz, der sich nach Schätzung des Bezirksamts Schöneberg bei einer Privatisierung vervierfachen würde. Doppelt widersinnig wird die geplante Privatisierung aber, wenn man bedenkt, daß das Schullandheim erst vor kurzem mit einem Bauvolumen von 5,2 Millionen Mark renoviert und kindgerecht umgebaut wurde. Besorgt fragen sich nun die MitarbeiterInnen, ob das Heim etwa »bewußt heruntergewirtschaftet« werden solle, indem man es zuerst für die Eltern unbezahlbar mache, um es später vielleicht an »Bonner Bonzen« zu verkaufen.

Ein Commerzienrat und »Bonze« war es auch, der im Jahre 1886 mit dem Bau der Villa begonnen hatte, die heute unter ihrem Efeugewucher das »Kaminzimmer«, Eß- und Aufenthaltsräume der Kinder sowie die nagelneu blitzende Großküche birgt. Von der Sonnenterrasse aus bietet sich ein wahrer »Millionärsblick« auf das baumbeschattete Parkgelände, das bis zu den Wassern des Wannsees reicht. »Hier haben einmal Millionäre gewohnt, jetzt können hier Kinder wohnen!« rief auch nach Erinnerung von Heimleiterin Titius ein Schulrat im Garten begeistert aus, als das Heim Mitte der 50er Jahre geöffnet wurde. Volle 34 Jahre schon ist Ingrid Titius hier tätig, ihre Stellvertreterin Ingrid Hentschel bringt es auch schon auf 30 Jahre. »Wir gehen beide nur gemeinsam von hier weg«, formuliert nicht ganz ohne Trotz die doppelte Ingrid, der schon diverse Behördenvertreter ihre »hochwertige« und »wichtige sozialpädagogische Arbeit« bescheinigt haben.

Doch die beiden Kinderfreundinnen fürchten weniger um ihre eigene Person — sie sind nach so langer Dienstzeit unkündbar — als um ihre Schützlinge, die nicht nur aus Schöneberg, sondern auch aus anderen Berliner Bezirken kommen. »Hier können Lehrer mehrtägige Naturkundeprojekte durchführen, hier können die Schüler lernen, was Gemeinschaft sein kann, hier können ausländische und deutsche Kinder sich verstehen lernen«, sagt Ingrid Hentschel. »Letztens hat uns eine Klasse mit vielen türkischen Kindern beim Abschied richtiggehend abgeküßt.« »Am besten, man schafft die Kinder ganz ab, man nimmt ihnen ja langsam alles, was Spaß macht«, schimpft Ingrid Titius mit Blick auf die Kinderschar, die gerade vergnügt mit Kastanien jonglierend ins Haus einfällt. Auch für die ebenfalls anwesende Schöneberger Volksbildungsstadträtin Karla Werkentin (AL) ist mit der geplanten Privatisierung »die Schmerzgrenze erreicht«: »Es gibt andere Möglichkeiten zu sparen als auf dem Rücken von Kindern, denen man das letzte kleine Stück Paradies nehmen will.«

Ein Paradies, durch das manchmal sogar noch Indianer hopsen und Tomahawks fliegen. Lachend erinnert sich Frau Titius an das mehrtägige »Indianerprojekt«, das ein Lehrer mit seiner Klasse durchführte. Ergebnis: »Ich wurde gekidnappt und an den Marterpfahl gebunden, und die Kinder sausten mir mit Geheul um die Beine.« Huuaaiiih! Ute Scheub