Kinder wachsen mit der Angst vor der Zukunft auf

■ Geborgenheit und Vertrauen zu entwickeln, wird für Kinder immer schwieriger/ Der Kinderpsychiater Horst Petri hat die Ängste der Kinder erforscht

Was in Kindern vorgeht, können wir uns sehr gut vorstellen. Schließlich waren wir ja alle mal Kinder. Nicht selten bilden die eigenen, mehr oder weniger verschwommenen Kindheitserinnerungen den Filter, durch den wir auf die heutigen 2- bis 18jährigen blicken. Dabei besteht die Gefahr, zu übersehen, daß seit unserer Kindheit viele bewußtseinsprägende Veränderungen stattgefunden haben. Wenn wir in einen Apfel bissen, so hatte dieser für uns noch nicht den Beißgeschmack von Pestiziden; unser erster Badeurlaub am Meer war noch nicht von den Begriffen Dünnsäure und Ölteppich überschattet.

Mit diesen Gefahren und den entsprechenden Medieninformationen, die tagtäglich auf sie einprasseln, müssen sich die Kinder heute jedoch auseinandersetzen. Daß dies nicht ohne Wirkung auf die Psyche der Kinder bleibt, veranschaulichen die Untersuchungen des Berliner Kinderpsychiaters und Psychoanalytikers Horst Petri. Eine 1985 durchgeführte bundesweite Befragung von 3.500 Kindern und Jugendlichen zwischen neun und achtzehn Jahren erbrachte erstaunliche Ergebnisse. Über alle Altersstufen hinweg waren, so Petri, die persönlichen Ängste (z.B. Schulangst, Angst vor der Trennung der Eltern) sehr viel geringer ausgeprägt als die politischen Ängste (z.B. Kriegsangst, Angst vor Umweltkatastrophen). 58 Prozent aller befragten Kinder gaben z.B. an, etwas Angst vor der Explosion eines Atomkraftwerkes zu haben, 37 Prozent kreuzten das Kästchen »Viel Angst« an — zu Recht, wie die Explosion in Tschernobyl wenige Monate später zeigte. Gerade Tschernobyl war eine Bedrohung, die Kinder am eigenen Leib erfuhren, z.B. dadurch, daß sie eine Zeitlang nicht mehr draußen spielen durften oder daß ihr Speiseplan wegen kontaminierter Lebensmittel eingeschränkt wurde. Je jünger die Kinder sind, desto stärker ist, laut Petri, die Angst, mit der sie auf derartige Gefahren reagieren. Denn jüngere Kinder verfügen noch nicht über die entsprechenden Abwehrmechanismen, um Ängste zu rationalisieren, zu verdrängen oder in Aktionen umzusetzen. Dabei kann Angst, die, wollte man sie definieren, erst einmal eine lebensnotwendige Reaktion auf Gefahren ist, durchaus als Motor wirken. Sie kann jedoch auch, insbesondere wenn das Gefühl von Hilflosigkeit hinzukommt, zerstören. Petri stellt deshalb die Frage, was Umwelt- und Kriegsängste, die gemeinhin als äußere Ängste gelten, im Inneren des Kindes anrichten.

Seiner Studie zufolge leben viele Kinder mit der Angst, daß die Welt in den nächsten Jahrzehnten zugrundegehen wird. Der Schluß, daß eine derartige Angst der Entwicklung von Zukunftshoffnung und von eigenen Perspektiven im Wege steht, ist naheliegend. »Ohne Hoffnung aber«, so Petri, »kann der Mensch gar nicht leben.« Für ihn ist die zunehmende Aggressionsbereitschaft unter Kindern und Jugendlichen ein Symptom für eine innere Verzweiflung, die nicht nur eine Reaktion auf aktuelle Probleme, wie z.B. die Arbeitsmarktsituation, ist, sondern tiefer liegt. »Der Generationenvertrag«, so Petri, »der es Kindern ermöglichen sollte, in einer Welt aufzuwachsen, in der sie Vertrauen entwickeln können, Geborgenheit empfinden, Bestätigung und Anerkennung finden können und in der es genügend Identifikationsmöglichkeiten für sie gibt, um eine eigene Identität zu entwickeln, dieser Generationenvertrag wird heute ständig von der Erwachsenenseite verletzt.«

Und dies ist kein Wunder, angesichts einer Erwachsenengesellschaft, die in der Mehrheit entfremdete Arbeit leisten muß, Verantwortung an Institutionen abgetreten hat und die eigene Identität über die Identifikation mit der Auto- oder Kleidermarke bezieht. Um Kindern Orientierungshilfen bieten zu können, müßten viele Erwachsene wohl erst einmal ihr eigenes Verhältnis zur Welt überdenken. Horst Petri hält ein Umdenken noch für möglich. Ein paar Katastrophen lang wird dies, seiner Meinung nach, jedoch noch dauern. Sonja Schock