WIR LASSEN LESEN
: Ach, Sechzig!

■ Aufstieg, Fall und Aufstieg der Münchner Löwen

Religion ist reine Sache des Gemüts und der Phantasie wie die Poesie, und man zerstört das Wesen beider, wenn man sie unter Vernunftregeln bringen will. (Karl Julius Weber, Demokritos)

Jajaja, 1860 ist eine Religion, das haben wir jetzt schon siebzehndreizehnmal (frei nach Pumuckl) gehört. Und wir wissen auch, daß Menschen vehement für ihre Glaubenshaltung fechten, daß sie missionieren und sich prügeln. Jeder Sechziger hat seine Kreuzzüge hinter sich. Auch Georg Simader.

Weilheim in Oberbayern, 1966, Klasse 4b, Volksschule: „40 Buben, einer davon ich... Schlägereien auf dem Schulhof gibt es immer montags, nachdem die Fußballergebnisse besprochen sind. Der erste Klassensprecher ist Bayern-Fan, dreißig Jungen hat er hinter sich geschart. Hinter mir, dem zweiten Klassensprecher, stehen die zehn Löwen-Anhänger... Die Fäuste fliegen, manchmal gibt es blutige Nasen, aber insgesamt sind wir, glaube ich, überlegen. Wie der erste Klassensprecher hieß, habe ich vergessen, den Löwen blieb ich treu.“ Einmal Löwe, immer Löwe.

Später sucht Sechziger Simader das Weite, überquert den Weißwurst-Äquator und werkelt fortan als Verleger in Frankfurt/Main. Seine Ballsport-Liebe dümpelt derweil in Bayerns Oberliga vor sich hin — der hessische Löwe ist gefrustet. Dann kommt der Sommer 1991: 1860 steigt auf! Damit fällt der Startschuß für hektische Aktivitäten: Georg Simader greift zum Telefonhörer, spricht mit dem potentiellen Autor einer super- schnellen Sechzig-Saga. Zwei Tage überlegt Peter Linden, Sport- Redakteur bei der 'Süddeutschen Zeitung‘, dann sagt er zu.

Der Hit wird mit heißer Nadel gestrickt, der vorgegebene Preis (natürlich 18,60 Mark) diktiert Aufwand und Umfang des Werkes. Vier Wochen recherchiert und schreibt der Journalist, weitere 21 Tage später wird das Opus der Öffentlichkeit präsentiert. „Eine brutale Arbeit“, meint Linden heute. Aber alles ist drin: Szenen vom Aufstieg, wo Kapitän Hainer mit dem Duschkopf als Mikro die Vereinshymne intoniert; wo Reporter Waldemar Hartmann den ehemaligen Bajuwaren-Häuptling Franz- Josef Strauß parodiert. Hosianna. Freudig liest man die sechziger Jahre (Meister, Europacup-Finale), mit Grauen die siebziger (Mißwirtschaft) und achtziger (Zwangsabstieg, Bayernliga). Und oft kommt einem der Gedanke: Warum bloß ist man ein Sechziger.

Da holt sich der Verein den CSU-Haushaltsheini Erich Riedl als Präsidenten, der mit dicker Hornbrille und ebenso dicker Lippe das Blaue vom Himmel verspricht. Der Fall war tief: Acht Millionen Mark Schulden nach einer „grandiosen Einkaufs- und Gehälterorgie“. Ach, Sechzig. Der Bannstrahl des DFB traf die Löwen: ab in die Bayernliga.

Dort regierte ein rigider Vorsitzender (Ritschie Müller), der frechen Journalisten schon mal Prügel prophezeite. Ach, Sechzig. Dann kam Heckl, der Baulöwe, schusterte Millionen zu, verstand nix vom Fußball, holte den krummbeinigen Kettenrassler Klimaschefski und im Winter 1988 vier angeblich international erprobte Isländer und Jugoslawen. Klimaschefski nach dem Flop: „Island ist so groß wie Schwabing. Da muß es doch nichts bedeuten, wenn einer Nationalspieler ist.“ Ach, Sechzig.

Irgendwann hatten die Fans die Nase voll von Absahnern und energielosen Ex-Profis, die es sich im Austragsstüberl an der Grünwalder Straße gemütlich machten: Bei einem Match gegen die Bayern- Amateure kamen nur 300 Tausendprozentige. Ach, Sechzig. Deckel drauf und zu. Die Löwen sind wieder wer, ehrlich und rechtschaffen, volksnah und beliebt. Im Schnitt erscheinen etwa 25.000 Freunde zu den Zweitliga-Kicks. Das Buch hat einen starken Statistik-Teil (alle Tabellen seit 1945), Autor Linden, 32, beschreibt in der gebotenen Kürze jedes Jahr seit der Bundesliga-Gründung 1963: knapp und gut. Nur essayistisch anreißen konnte er das Verhältnis zum haßgeliebten FC Bayern.

Ins Philosophieren gerät Linden gar, als er sich mit den phänomenalen Fans befaßt. Und kommt zu dem Schluß: „Da ist nichts Rationales an der Entscheidung: einmal Löwe, immer Löwe“. Eine Religion halt. Hosianna. Gerhard Sepp Fischer

Peter Linden: Einmal Löwe, immer Löwe. 120 Seiten, ca. 120 Fotos und Abbildungen. Verlag Georg Simader, Frankfurt/M., DM 18,60