„Wir Polen sind halt viel elastischer“

Die deutsch-polnische Freundschaft ist zwar vertraglich besiegelt, aber nur die Polen wollen auch Freundschaft. Die Deutschen dagegen beäugen ihre Nachbarn voller Mißtrauen. Ein Grenzgang an Oder und Neiße  ■ VONBASCHAMIKA

„Mit der Vergangenheit, sogar der schmerzlichsten und tragischsten, muß man leben können, aber man muß aus ihr auch richtige Schlüsse für konstruktive, der besseren Zukunft dienende Tätigkeit ziehen.“ (Der polnische Ministerpräsident Jan Bielecki bei der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Vertrags über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit)

Ein Orchester aus Zgorzelec, östlich der Neiße, musiziert auf Schalmeien aus Görlitz, westlich der Neiße. Mit Wohlgefallen betrachtet der Görlitzer Bürgermeister diesen Akt der Völkerverständigung. Geben nun liebliche Schalmeienklänge den Ton an im deutsch-polnischen Grenzland?

„Dreckig sind sie und faul.“ Der, der dies verbreitet, als hätte man ähnliches nie gehört aus deutschem Mund, steht auf der Brücke von Görlitz nach Zgorzelec. Einkaufen will er mit Frau und halbwüchsigem Sohn im polnischen Teil der Stadt, „weil dort ja alles viel billiger ist“. Eher widerwillig wird der Haushaltskasse dieses Opfer gebracht. „Und wenn zu viele von denen zu uns kommen, na denn werden unsere schon aufräumen. Der Fluß hier ist ja groß genug“, sagt er und blickt grienend aufs Schlammwasser der Neiße.

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Görlitz, versteckt im südöstlichsten Zipfel des vereinigten Deutschlands. Die erste Station einer Reise entlang Oder und Neiße. Über Jahrhunderte war diese Stadt ein Schmuckstück, reich durch Tuchmacherei und schön. 40 Jahre Sozialismus, Tonnen von Braunkohlestaub und Schwefeldioxid haben kräftig gefressen an den Renaissance- und Barockhäusern, den Villen der Gründerzeit.

Die steinernen Hüllen haben auch diese Zeit überstanden; und die Menschen, die darin leben, etwas wiederentdeckt, was ihnen der DDR-Staat verweigerte: ihre „schlesische Identität“. Daß ein Teil der Oberlausitz zu Niederschlesien gehört, ging im Realsozialismus unter.

Aber Sachsen wollen die Görlitzer nicht länger mehr sein, am liebsten hätten sie ein eigenes Bundesland Niederschlesien. Bisher haben sie zwar noch nicht einmal einen Regierungsbezirk, aber immerhin schon einen Namen für das Kind: „Schlesische Lausitz“.

„Oh, du mein Schlesierland“ lautet die Devise aller Lokalpolitiker; „schlesisches Himmelreich“ und „schlesische Semmeln“ die der örtlichen Gastronomie. Auch der Vertriebenenverband schürt kräftig das neu entflammte Heimatgefühl. Nur die polnischen Nachbarn gucken skeptisch und irritiert über die Westgrenze. Zu häufig ist ihnen ein „Schlesien bleibt unser!“ aus Deutschland entgegengeschallt.

„Es geht vorwärts in Richtung Osten“, frohlockt Oberbürgermeister Matthias Lechner. Er weiß, daß Görlitz nur eine Chance hat, nicht zu verkümmern in seiner extremen Randlage: sich ökonomisch und kulturell gen Osten zu öffnen. Neun Prozent sind arbeitslos in seiner Stadt; nur deshalb nicht mehr, weil junge Leute ständig abwandern. Mit 72.000 hat Görlitz heute die wenigsten Einwohner seit Ende des Krieges. Lechner betrachtet die gewölbte Decke seines Arbeitszimmers im historischen Rathaus und sinniert: über den Austausch von Lehrern und Sportlern mit der Partnerstadt Zgorzelec, die neu eingerichtete Buslinie zum östlichen Nachbarn und daß er die polnischen BürgerInnen ins Konzert geladen hat — umsonst, weil das bei denen mit dem Geld „so schwierig“ ist.

Doch tatsächlich überquert nur ein polnischer Lehrer täglich die Brücke nach Görlitz, in Zgorzelec dagegen lernen 600 SchülerInnen deutsch. Rechtsradikale fallen immer wieder über die östlichen Nachbarn her, die im Görlitzer „Massamarkt“ einkaufen wollen. „Polenmassa“ wird er von den Einheimischen nur noch genannt.

Aber das ist für den 39jährigen CDU-Mann nicht entscheidend. „Jugendliche sind immer zu Gewalt bereit“, erklärt Lechner. Und wenn er dann nachdenkt, kommt er auch auf die „andere Mentalität im polnischen Bürger“ zu sprechen und darauf, daß es „früher hübsch aussah, als die Gebiete östlich der Neiße noch deutsch waren“. Aber jetzt sei in Polen alles verschlampt.

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Einer mit der „anderen Mentalität“ sitzt derweil in einem blaß-rosa Haus am anderen Ufer. Vom ersten Stock des Bürgermeisteramtes in Zgorzelec richtet Stanislaw Bukowiec den Blick fest auf die gemeinsame Zukunft von Deutschen und Polen. „Wir sind schon eine einzige Stadt“, glaubt der 45jährige Bürgermeister. „Alte Vorurteile sind bereits Vergangenheit.“ Und als die Sprache auf deutsche Ressentiments und Rechtsradikale kommt, erledigt das sein Mitarbeiter Wieslaw Kosobucki mit einem weisen Spruch: „Es gibt kluge und dumme Leute auf der Welt. Die Klugen verstehen alles, die Dummen nichts!“

Wichtig sind dem Amtsträger der 35.000-Seelen-Gemeinde die „konkreten gemeinsamen Projekte“ mit den Görlitzern. Mit immer neuen Vorschlägen bringt er sie unter Zugzwang. Unlängst regte er an, drei weitere Grenzübergänge einzurichten und die Energieversorgung der beiden Städte zusammenzulegen. Auch die strukturellen Probleme der Region will er zusammen mit den Deutschen angehen.

Anfang 1990 pendelten noch 40.000 Polen über die 458 Kilometer lange Grenze zur Arbeit. Jetzt sind es nur noch eine Handvoll. Und auf deutscher Seite wird das Grenzgebiet von den typischen Plagen der Fünf Neuen Länder heimgesucht: Betriebsschließungen, Massenarbeitslosigkeit, Strukturwandel.

Über die deutsch-polnischen Verträge könne man viele Probleme gemeinsam lösen, hofft das seit April amtierende Stadtoberhaupt von Zgorzelec. Vorgesehen ist in Bonn und Warschau eine Regierungskommission zur regionalen und grenznahen Zusammenarbeit. Und natürlich denkt Bukowiec — wie jeder polnische Politiker — an das Tor nach Europa: an das Versprechen der Bundesrepublik, den EG-Beitritt Polens nach Kräften zu fördern.

Europa — es scheint als wäre es zur Zeit die häufigste Vokabel im polnischen Sprachschatz. „Wir sind Europäer, an erster, zweiter, dritter, zehnter Stelle, und erst an elfter Stelle können wir uns daran erinnern, daß wir auch Polen sind“, formulierte es kürzlich der Schriftsteller und Senator Andrzey Szczypiorski. „Wenn jemand das nicht versteht, dann versteht er wirklich nicht, was für Polen gut ist.“

Auf einem kleinen Platz, nahe der Hauptstraße von Zgorzelec, steht ein grün-lila Hexenhäuschen. Das Kopftuchweiblein hinter der Holztheke verkauft hier seit dreißig Jahren Gemüse. Zucchini, so groß wie Kürbisse, selbsteingelegte Gurken, Kartoffeln. „Deutsch gut — Handel gut“ freut sie sich über die Kundschaft und legt noch einen Apfel drauf.

Viele Polen im Grenzgebiet, die früher in DDR-Betrieben gearbeitet haben, versuchen wie die Alte mit Kleinhandel ihr Geld zu machen. Und die Deutschen kommen. Die Einkaufsstraße von Zgorzelec ist voll von ihnen. Noch nicht einmal „Guten Tag“ sagen sie auf polnisch, tragen die Nase hoch und erwarten, auf deutsch bedient zu werden.

„Da können sie die Bluse für 15 statt für 50 Mark kaufen. Das ist der einzige Grund, warum sie rübergehen.“ Karen Papandopulos ist Ausländerbeauftragte in Görlitz. Die 29jährige Deutsch- und Russisch- Lehrerin hat ihren Job bei der Stadt seit dem 1.Juni und kam dazu wie die Jungfrau zum Kinde. Am Freitag mußte sie sich beim Arbeitsamt melden, am Montag ihre neue Stelle antreten. „Sich sorgen um Ausländer“ lautete die Arbeitsplatzbeschreibung — was ihrer Meinung nach Bände spricht.

Für die junge Frau ist die deutsch- polnische Beziehung so trübe wie das Wasser der Neiße. Nie werde es zu einer Superfreundschaft kommen. Zu schwer falle es den Deutschen, eine andere Lebensart zu akzeptieren. Immerhin, meint sie, sei das Verhältnis zu anderen Ausländern noch krimineller. Als Kinder von Flüchtlingen in Görlitzer Krippen aufgenommen wurden, gab es Stimmen, die forderten: „Die muß man kaltmachen, die nehmen uns die Plätze weg.“

Karen Papandopulos erklärt sich diese rassistischen Ausbrüche mit den jüngsten Erfahrungen der Ostdeutschen. „Wir sind aufgekauft worden, sind abhängig, da haben wir ruhig zu sein. Das ist sehr erniedrigend.“ Und gegenüber den Polen werden diese Gefühle offenbar ausgelebt, wird das gegeißelt, was man selbst noch allzu deutlich in sich spürt und was man als Ostler im neuen Deutschland gezwungen ist abzulegen: den Schlendrian, das Verlassen auf Vater Staat, die sozialistische Wirtschaft.

„Die Polen haben doch schon 1980 die Revolution gemacht und kriegen doch nichts auf die Beine“, sagt der Grenzschützer an der Neiße, während er den fünfzigsten Reisebus via Berlin abfertigt. Ob Zöllner, Bürgermeister, oder Pensionswirt — die Bürger der Ex-DDR erinnern sich gern an ihre wirtschaftliche Vormachtstellung im sozialistischen Lager. Und die Worte, die sie dabei für die Polen übrighaben, erinnern grotesk an das Vokabular des Wessis, der dem Ossi mal wieder Unfähigkeit bescheinigt. „Gucken Sie sich doch mal die Betriebe drüben an! Völlig runtergewirtschaftet und unrentabel. Muß alles zugemacht und saniert werden“, konstatiert der Grenzer — als hätte ihm die Marktwirtschaft nicht das gleiche vor seiner Haustür beschert.

Janusz Reiter, der polnischen Botschafter in Bonn, sagte es anders: „Die Hoffnung, daß die gemeinsame Vergangenheit von 40 Jahren Sozialismus die betroffenen Völker verbindet, hat sich nicht erfüllt. Der Blick aller ist nach Westen gerichtet, nicht nach Osten. Keiner will der Ossi sein, jeder will der Wessi sein.“

Durch die Hauptstraße von Zgorzelec läuft ein alter Mann, lang, hager, die Kleider viel zu groß. Vor zwei Frauen, die deutsch reden, bleibt er stehen, fährt sich mit einer Hand über die Gurgel, als wolle er sie durchschneiden. Sind alle Deutschen Halsabschneider? Soll man den Deutschen den Hals abschneiden?

Wenig freundschaftliche Gefühle auch auf der anderen Seite der Doppelstadt. Michael Prochnow ist Kleinverleger und Mitglied des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvereins „Via regia“. Öffentlich hatte der rundliche Mann mit Bart in Görlitz verkündet: Bevor er sein Haus zusammenbrechen lasse, weil ich eine einheimische Firma nicht bezahlen könne, hole er sich lieber Polen rüber. Das traf eine empfindliche Stelle: Die Angst vor dem Verlust des Jobs mischt sich in der Grenzregion mit der Angst vor den billigen Arbeitskräften aus dem Osten. „Geh lieber in der Mitte der Straße, wenn du an einem unserer Baugerüste vorbeikommst“, drohte ein Görlitzer Bauunternehmer dem Abtrünnigen.

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Von Görlitz nach Norden folgt die Straße den Winkeln des Wassers. Bäume bewachen die Straßen, pastellfarbige Häuser verstecken sich hinter Herbstblumenbüschen, die aufgeräumten Stoppelfelder glänzen ordentlich. Nichts von DDR-Tristesse.

Der nächst größere Ort ist Rothenburg. Hier überquerte die polnische Armee 1945 die Neiße. Vor dem Krieg war Rothenburg durch eine Brücke mit dem östlichen Tomersdorf verbunden. Heute existieren weder Brücke noch Dorf. Deutschstämmige gibt es in diesem Teil Polens nur wenige. Rund 1,4 Millionen Menschen sind zwischen 1945 und 1946 aus Niederschlesien nach Westen geflüchtet oder wurden vertrieben. Vor einer Kaserne gleich hinter Rothenburg ragt ein ausrangierter Jet in den Himmel, schräg aufgespießt auf einer Eisenstange wie auf einem Grill. „Für den Frieden leben, arbeiten, verteidigen“, steht auf dem Schild davor.

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Bei Bad Muskau sieht man sie schon von weitem ziehen: die Karawane aus Menschen und Autos. Am Ortseingang beginnt der Stau, das Gefluche, der Abgasgestank. Von denen hier interessiert sich niemand für den englischen Landschaftspark in Bad Muskau, den Fürst von Pückler im letzten Jahrhundert anlegen ließ, niemand für die Moor- und Mineralquellen. Das Städtcheninnere liegt langweilig leer. Denn die Leute aus Niesky und Forst, aus Döbern und Rietschen lockt nur eins: der Polenmarkt auf der anderen Seite des Flusses bei Leknica.

Auf der Brücke sitzt der polnische Grenzer entspannt auf seinem Schlagbaum. Von Ausweiskontrolle

keine Spur. Dahinter strecken sich den Besuchern Stücke polnischer Wurst auf Messerspitzen entgegen: „Probieren bitte!“ Ein Kilo für sechs Mark. Ein Holzhäuschen neben dem anderen. Gemüse, Jeans, Kassetten, Käse, Brot, Obst. Preise in D-Mark, nicht in Zloty. „In den Augen schimmern Tränen“, dröhnt es aus einem Ghettoblaster. Polenmärkte, wie hier bei Leknica, gibt es zuhauf entlang der Grenze.

„Mensch, gib doch mal die Scheiß-Schrippen deiner Mutter“, herrscht ein Vater seinen Sprößling an und zerrt ihn und eine Jeans in die Umkleidekabine. Sie kommen zu Tausenden über die Grenze, um ein Pfund Butter für eine, ein Brot für eine halbe oder eine Stange Marlboro für 18 Mark zu kaufen. „Schlecht ist es nicht, wenn man sich überlegt, daß es über die Straße viel villiger ist“, sagt die junge Frau vor dem Hemdenstand. Doch nur wenige sehen es so positiv. Die meisten laufen mit zusammengezogenen Augenbrauen und mißtrauischen Mündern über den Platz. Und manch einen hört man giften: „Mit dem, was sie einem hier verkaufen, ham' sie uns immer noch beschissen.“ „Sie handeln ja nur, statt zu arbeiten.“

Jan Koscelec hat vor zwölf Jahren in verschiedenen DDR-Betrieben malocht, danach als Installateur bei einer einheimischen polnischen Firma. Die ist seit einem halben Jahr pleite. Heute verkauft er zusammen mit seiner Frau Kassetten auf dem Markt. „No, Deutsche kommen hier, Polen kaufen drieben. Ist gut“, grinst er und schiebt Kuschelrock. Vol. 58 in den Recorder.

Koscelec ist einer von 1,5 Millionen arbeitslosen Polen. Die Industrieproduktion des Landes ging im ersten Halbjahr '91 im Vergleich zum zweiten Halbjahr '90 um mehr als 15 Prozent zurück. Über 28 Prozent der Betriebe sind unrentabel, jeder dritte der 4.000 Staatsbetriebe manövriert am Rande der Pleite.

Dazu kommt die Inflation: Um knapp 40 Prozent sind die Preise seit Anfang des Jahres gestiegen. Immerhin hat der Pariser Klub westlicher Gläubigerstaaten dem Land die Hälfte seiner Auslandsschulden erlassen. Nach Ansicht polnischer Ökonomen reicht diese Entlastung aber gerade mal aus, um den wirtschaftlichen Totalzusammenbruch zu verhindern. Der Aufschwung kommt dadurch noch lange nicht.

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Auf östlicher Seite geht die Fahrt weiter nach Norden, immer die dunkle Neißebrühe entlang. Mit dem deutsch-polnischen Freundschaftsvertrag soll ein Umweltrat eingerichtet werden. Den hat dieser Fluß auch bitter nötig.

Dörfer mit dreieinhalb Häusern. In Buczyny stehen Körbchen mit Blau- und Brombeeren an der Straße. Das Stroh auf den Feldern liegt locker auf großen Haufen, ist nicht zu riesigen Kugeln zusammengezurrt wie auf Westäckern. Ist sie das, die oft unterstellte polnische Unordnung?

In Trzebiel, dem nächsten Dorf, sind die Halme wieder sauber zu kleinen Würfeln gebündelt. 3.000 Menschen leben hier, weit verstreut liegen die Häuser. Mit einer Kartoffel in der linken, einem Schälmesser in der rechten Hand kommt Ulà an die Haustür. Die Familie hat was zu feiern, der dritte Sohn wird heute getauft. Der Tisch mit rot-weiß-goldenem Geschirr wartet schon auf die Gäste. Einer der Taufpaten ist Deutscher, ein Freund ihrer Eltern aus Jerischke.

Ulà hat fünf Jahre in der Glasfabrik im deutschen Weißwasser gearbeitet. Während ihres Mutterschaftsurlaubs kam die Kündigung. Früher hat sie sich gut verstanden mit den anderen Frauen im Betrieb. Erst in letzter Zeit hätten die Deutschen sie immer angeguckt: Warum arbeitet die noch, warum ist die noch nicht weg?

Auch an die Zeit vor 1980 erinnert sich die junge Polin nicht gern. Damals — bis die DDR die Grenzen zum sozialistischen Bruderland schloß, weil dort der Solidarnosc-Bazillus grassierte — kauften ihre Landsleute scharenweise in der DDR all das ein, was es zu Hause nicht gab. „Schacherer“, schimpften die Ostdeutschen, wenn sie dann bei den rationierten Waren in die Röhre guckten. Und sie beließen es nicht beim schimpfen. „Manchmal habe ich drei Zitronen und eine Tafel Schokolade für das Kind gekauft. Wenn die Kassiererin gemerkt hat, daß ich Polin bin, mußte ich es wieder zurücklegen.“ Noch heute regt sich Ulà auf, wenn sie daran denkt.

„Die Westdeutschen sind freundlich zu den Polen, die DDR-Leute nicht“, kommentiert Ulàs Mann Jarosz. Doch er irrt. Die in Polen verbreitete Sympathie für die Wessis stößt nicht auf Gegenliebe, wie Umfragen zeigen. Westdeutsche Bundesbürger urteilen noch kritischer über die Polen als deren ostdeutsche Nachbarn.

Jarosz glaubt, daß nur die alten Leute in Polen Angst haben vor den Verträgen mit den Deutschen, daß nur die Vorkriegsgeneration fürchtet, daß 1939 wiederkommen könnte. Doch auch hier hat er unrecht. Nicht nur die Alten erinnern sich an die sechs Millionen Toten zwischen '39 und '45 und wollen den Deutschen nicht trauen. Für mehr als die Hälfte der polnischen Bevölkerung sind Oder und Neiße keine sichere Grenze. Vor allem die Menschen der Grenzregion sind vorsichtig. Denn viele von ihnen, immerhin 3,7 Millionen, stammen aus dem Gebiet östlich des Bug und wurden schon einmal vertrieben.

180.000 Quadratkilometer mußte Polen bei Kriegsende den Sowjets überlassen. Mit 103.000 wurde es östlich von Oder und Neiße entschädigt. Die, die sich in dem von Deutschen geräumten Gebiet zwangsweise ansiedelten, fürchteten noch lange die Revision der Grenzen.

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Bei Olzyna geht es wieder über die Neiße, auf deutscher Seite weiter nach Forst. Es sieht alles ganz normal aus. Zwei Brücken über den Fluß. Dann das Eisentor am Brückenrand, der zerborstene Beton, die Risse in den Arkaden. Die ersten Bogen strecken sich noch über die Neißewiesen, wo früher die Tuche gebleicht wurden. Dann nur noch Luft und Wasser. Die Brückenmitte ist weggesprengt. Ein letzter Gruß der deutschen Armee. Nach '45 ging das Leben hier vor abgebrochenen Brücken weiter.

Ein treffendes Bild für die Beziehung der Nachbarstaaten, findet Hans-Wilhelm Pietz. Zusammen mit einigen Enthusiasten macht sich der Pfarrer für einen neuen Fußgängersteg über die Neiße stark. Damit in der Region wirtschaftlich was ins Rollen kommt, die Infrastruktur und die Kontakte belebt werden.

„Die Skepsis und die uneingestandenen rassistischen Ressentiments gehen quer durch die ganze Bevölkerung“, weiß der junge Pfarrer. „Hier glauben vor allem die Alten, daß man zwar mit dem Kopf für Gleicheit sein kann, aber wenn man die Augen aufmacht, eben doch den Unterschied zu den Polen sieht. Dabei war die Hälfte der Forster seit '45 nicht mehr drüben. Sie reden wie der Blinde von der Farbe.“ Ursprünglich unterstützten die Stadtverordneten das „Projekt Brücke“ und beschlossen, es noch in diesem Jahr zu realisieren. Doch dann sammelte sich die Ablehnerfront. Von dem „Chaos“, das ausbreche, wenn die Polen in Forst einfallen, war plötzlich im Rathaus die Rede, von den Schwierigkeiten der Finanzierung und davon, daß ein Übergang nur für Fußgänger sowieso nicht ausreiche. Der Haß gegen das Fremde war wieder da: daß Polen von Natur aus schmuddelig, faul und besoffen seien, in aller Munde.

Maciek ist 35 und lebt seit fünf Jahren in Forst, verheiratet mit einer Deutschen. Langsam wird er immer saurer auf die Ostler. „Seitdem sie die D-Mark haben, spielen sie den großen Maxe, kaufen billig in Polen ein und meckern trotzdem nur.“ Er schrubbt an seinem Auto vor dem Mietshaus mit der Wäsche im Hof.

Horst rollt auf seinem Fahrrad heran, schlägt ihm zur Begrüßung die Hand auf die Schulter. Schwarze Breitcordhose und -weste, Silberknöpfe, einen Zollstock in der Seitentasche: Horst ist Zimmermann, 52 Jahre. Heute wurde er entlassen. Auf der Baustelle hat er immer zwischen Deutschen und Polen gedolmetscht. Schlesier ist er, seit 16 Jahren in Deutschland. Jetzt ist er am Ende. Tränen verkriechen sich in seinem Bart. Wer will ihn haben? Seine Frau ist auch arbeitslos. Zum Abschied hat er einem polnischen Kollegen seine Jacke geschenkt. „Is wunderbar mit den Polen. Hab ihnen heute noch ein Bier ausgegeben.“

Doch wer hört schon, was Horst sagt. Selbst die wenigen Jungen in Forst würden lieber auf die Brücke zu den Polen verzichten. Die Jugendlichen, die ihren Treff unter der Linde am Neißeufer haben, bezeichnen sich als Linke. „Nazis raus!“ und ein durchgestrichenes Hakenkreuz schmücken einen Brückenstumpf.

Der 19jährige Guido, der zum BGS will, weil sein Betrieb zugemacht hat, und der 14jährige Marcel, der ein rotes Piratentuch um den Kopf trägt, beteuern: „Wir haben nichts gegen Polen.“ Trotzdem fahren sie immer nur kurz rüber, zum billigen Tanken für 80 Pfennig. Denn angeblich nehmen die Polen einem die Autos auseinander, sind aggressiv und schnell mit dem Messer dabei. Bei diesen Worten nickt die restliche Truppe beifällig.

Die zwangsverordnete Völkerverständigung mit dem polnischen Nachbarn, das Friedensgeklingel der DDR-Regierungen hat bei den Ostdeutschen offenbar wenig bewirkt, obwohl die Ministerpräsidenten Otto Grotewohl und Jozef Cyrankiewicz die „Friedensgrenze“ schon 1950 feierlich anerkannt hatten. Auch einen Freundschaftvertrag gab es mit dem sozialistischen Deutschland 24 Jahre früher als mit dem wiedervereinigten.

„Wir Ostdeutschen haben nie gelernt, mit einer anderen Lebensmentalität umzugehen. Unser Sozialismus war sehr chauvinistisch. Unser Lebenstil war der beste. Auf die Imperialisten im Westen und die Polen, die's noch nicht richtig begriffen hatten, konnten wir herabsehen. Aber ob wir wollen oder nicht: Es geht nur miteinander. Politisch, ökonomisch, ökologisch“, vertritt Pietz voller Überzeugung.

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Von Forst nach Eisenhüttenstadt wird das Land flach; endlos lange Güterzüge warten auf irgendwelchen Gleisen. Bei einem riesigen Loch frißt ein Braunkohlebagger langsam die Landschaft. Ganze Dörfer, Höfe, Existenzen hat er schon vernichtet. Eine zusätzliche Bedrohung für die Menschen dieser Region. Als Günther Grass diese brandenburgische Mondlandschaft sah, schrieb er: „Sobald ich am Grubenrand saß und zeichnete, wo die Straße nach Pritzen plötzlich, als habe übermenschlicher Heißhunger sie abgebissen, aufhört, wollte mir die Wüstenei zum Bild der DDR werden.“

Wo die Neiße in die Oder fließt, ist es kurz vor Guben. Ein riesiges Kraftwerk faucht dem Besucher am Ortseingang entgegen. Nördlicher, in Eisenhüttenstadt, qualmt fast die gesamte Stahlindustrie der Ex-DDR auf märkischem Sand. Schlotiges Industriepanorama vom schlimmsten.

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Noch weiter im Norden, in Frankfurt/Oder, mischen sich Reste des Mittelalters mit realsozialistischem Plattenbau. Mächtig geputzt hat sich die Messe- und Handelsstadt in den letzten zwei Jahren. Mit solch geleckten Fußgängerzonen kann ihre ehemalige „Dammvorstadt“ nicht konkurrieren. In Slubice, auf der anderen Seite der „Friedensbrücke“ über die Oder, begrüßt ein Blumenrondell das Auge. Ansonsten ist alles etwas schäbiger.

In beiden Städte ist jemand für Ausländerfragen zuständig. In Frankfurt mit seinen 88.000 Einwohnern Dezernent Klaus Baldauf, im 12.000-Seelen-Ort Slubice Lucyna Leyko. Sie macht es ehrenamtlich neben ihrem Lehrerjob.

Beide wissen, daß man Voruteile nur durch persönliche Begegnungen ausrotten kann. Aber die Beteiligung an deutsch-polnischen Veranstaltungen ist „erschreckend gering“, stellt Baldauf immer wieder fest. Er ist gleichzeitig Vorsitzender der „Frankfurter Brücke“, einem deutsch-polnischen Freundschaftsverein. Er hofft auf Kontakte zwischen Kultur- und Sportgruppen, will Kinder und Pensionäre zusammenbringen. Das mit dem Freundschaftsvertrag geschlossene Abkommen über ein deutsch-polnisches Jugendwerk — über dessen deutschen Sitz sich Frankfurt und Potsdam noch streiten — sieht er als ganz große Chance.

Doch während Jugendministerin Angela Merkel in Bonn von deutsch- polnischem Schüleraustausch schwärmt, hat Lucyna Leyko die Realität vor Augen. „Es passiert nichts. Man spricht viel in der Öffentlichkeit, auch hier von Versammlung zu Versammlung, aber persönliche Kontakte entstehen nicht.“ Weil sie selbst Deutsch unterrichtet, hat sie seit langem vorgeschlagen, mit Schulen in Frankfurt zusammenzuarbeiten. Bisher gabs nur Gleichgültigkeit.

Durch die haben sich die Deutschen bei den Polen schon manches verscherzt. Daß DDRler bereits am 6.Oktober 1990 visumfrei nach Polen durften, die Ostnachbarn aber sechs Monate länger auf den Freifahrtschein nach Westen warten mußten, hatte politisch und psychologisch fatalere Folgen, als man aus den Reaktionen aus Warschau schließen konnte. „Viele haben nichts gesagt, weil, sie sind sich der ökonomischen Abhängigkeit und der gemeinsamen Grenze mit den Deutschen bewußt. Aber deren Hochnäsigkeit können wir in Europa nicht gebrauchen“, schimpft die Frau aus Slubice. Und wenn es trotzdem winzige Schritte zur Verbesserung gibt, dann nur, „weil wir Polen etwas elastischer sind.“

Polnische Flexibilität zeigt sich auch an der neuen „Philosophie der Arbeit“, die im Land diskutiert wird. Eine Philosophie, an der die Deutschen ihre wahre Freude haben müßten. Viel ist von Fleiß, Zuverlässigkeit, Organisation die Rede, mit der sich die Polen auf die Marktwirtschaft einstellen wollen.

Diese Stichworte fallen auch bei einem Abstecher nach Gorzow, der Hauptstadt der Woiwodschaft, zu der auch Slubice gehört. Hier arbeitet Arkadiusz Bak in einer Jugendberatungsstelle. Er hilft bei Bewerbungen für einen Arbeitsplatz, versucht zu vermitteln, wenn eine Wohnung fehlt. Die jungen Leute, die sich hier engagieren — wie der 18jährige Wojtek oder der 26jährige Marek — finanzieren das Jugendzentrum durch Jobs nebenher.

Arkadiusz Bak bewundert die Deutschen. „Unsere Jugendlichen wollen den Kapitalismus, aber sie wissen nicht, wie man das macht. Und auch zu faul sind sie noch, aber das ändert sich.“ Schulungen in Ökonomie und Business sind angesagt, meint der junge Pole. „Wir müssen an die Zukunft denken.“ Und mit der Zukunft kommt er wieder ins Spiel, der Traum vom offenen Europa. Ein Traum, den bereits jedes polnische Kind zu träumen scheint.

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Zurück Richtung Oder. Über Mysliborz und Row. Vorbei an Holz-Christussen, die mit Plastikblumen geschmückt sind. Chojna, eine kleine Stadt, zehn Kilometer vom deutschen Schwedt entfernt. Die letzte Station. Mitten im Ort eine Kirche aus dem 12. Jahrhundert, im Krieg völlig zerschossen und nicht wieder aufgebaut. Drei Straßen weiter die Dreifaltigkeitskirche, viermal wird hier Sonntags die Messe gelesen. Und immer stehen die Leute bis vor das Kirchportal.

Der Priester hat gerade sein Tagewerk beendet, zum deutsch-polnischen Verhältnis will er trotzdem nichts sagen, weil er sich „nur mit religiösen Fragen“ beschäftige. „Seitdem unsere Kirche die Politik macht, sagt sie nichts mehr dazu“, kommentiert spöttisch ein Kirchgänger.

Bernard Wojewoda, sein jüngerer Bruder Roman und Schwester Anna sitzen in der Küche des Gemeindehauses. Ein Freund der Familie Gregor Maletzki ist auch noch dabei. Bei Kaffe und Kuchen, aus der Kirchenkasse bezahlt, sind sich der Ingenieur, der Farmer und der Facharbeiter einig, daß die Kirche zu viel Einfluß hat in Polen, daß Kirche und Nationalismus eins sind.

Anna, die Kathechismuslehrerin, schweigt, während die Männer statt Nationalismus lieber die Freundschaft zum deutschen Nachbarn sehen würden. „Wer Politik macht, ist nicht so wichtig“, brummt Gregor Maletzki zwischen zwei Schlucken. Bernard Wojewoda nickt. „Auch wenn es bei der großen Politik Probleme gibt, könnten doch wenigstens wir kleinen Leute auf beiden Seiten zusammenkommen.“