Freispruch für Messerstiche aus Notwehr

Gestern wurde der 22jährige Türke Ayhan Ö. vom Berliner Landgericht vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen/ Er hatte in Todesangst einen Rechtsradikalen erstochen  ■ Aus Berlin Plutonia Plarre

Mit einem Freispruch vom Vorwurf des Totschlags endete gestern vor der 28. Strafkammer des Berliner Landgerichts der Prozeß gegen den 22jährigen Türken Ayhan Ö., der im November des vergangenen Jahres einen 21jährigen „Republikaner“ in der S-Bahn mit einem Messerstich in die Schläfe getötet und zwei von dessen Begleitern schwer verletzt hatte.

Das Gericht unter dem Vorsitz von Richterin Daniela Sollin Stoujanoviz war ohne Wenn und Aber davon überzeugt, daß Ayhan Ö. in Notwehr gehandelt hatte, indem er sich gegen den Angriff von sechs rechtsradikalen Deutschen mit dem Messer verteidigte. Eine Gruppe von türkischen und deutschen Jugendlichen im Zuschauerraum applaudierte bei der Urteilsverkündung laut. Die beiden Schwestern des getöteten rechtsradikalen Rene G. brachen in Tränen aus, zwei seiner Freunde starrten die Richterin bitter an.

Nach fünftägiger Beweisaufnahme wertete die 28. Strafkammer das tragische Geschehen am Abend des 16. November im Ostberliner Bezirk Marzahn so: Der Kraftfahrer Ayhan Ö. befand sich mit zwei türkischen Freunden und zwei deutschen Freundinnen in der S-Bahn auf dem Weg zu einer Diskothek. Am Bahnhof Springpfuhl stiegen sechs Deutsche hinzu, die zum Teil mit Tüchern oder Kapuzen vermummt waren. Angesichts der beiden ihnen bekannten deutschen Mädchen neben den Türken pöbelten sie über „die Weiber, die sich mit Kanaken rumtreiben“. Einer aus der Gruppe, so die Vorsitzende Sollin Stoujanoviz, „lud demonstrativ“ seine Gastpistole, außerdem riefen sie „Ausländer raus“, „Deutschland den Deutschen“ und „Heil Hitler“.

Ayhan Ö., der „von mindestens drei“ der Deutschen eingekreist war, bekam Tritte und Schläge ab. Er griff zum Messer und stach „in Angst um sein Leben“ auf einen der Angreifer ein. Rene G., so die Richterin, „geriet dazwischen, wie, wissen wir nicht“. Zu den Aussagen seiner fünf Freunde sagte sie: „Die Kammer hat selten so unglaubliche Dinge gehört.“ Die Zeugen hätten vor Gericht zum Teil „unglaublich gelogen“, um ihren Auftritt in der S-Bahn zu schönen. „Im Notfall liegt das Risiko beim Angreifer“, stellte die Richterin unter Berufung auf die eindeutige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs fest.

Auch Staatsanwalt Dalheimer hatte auf Freispruch wegen Notwehr plädiert. Der ehemalige Landesvorsitzende der „Republikaner“, Carsten Pagel, der die Eltern des getöteten Rene G. vertritt, hatte eine „angemessene Bestrafung“ gefordert. Er bezichtigte den Angeklagten, seine Aussage „in großen Teilen erfunden“ zu haben, „um das ganze Geschehen notwehrfähig zu machen“. Für Pagel stand fest, daß von Rene G. „kein Angriff“ ausgegangen sei. Der Ex-Rep-Vorsitzende bezeichnete Ayhan Ö. als einen Mann „mit erheblicher Aggressivität“ und „einer besonderen Beziehung zu Waffen“, der in dem Prozeß „nicht eine menschliche Regung“ durch ein Wort des Bedauerns gezeigt habe. Ein Freispruch, so Pagel, würde zur Folge haben, daß all diejenigen „aufrüsten werden“, die unabhängig von ihrem politischen Hintergrund einen „Hang zur Gewalt“ hätten. Wie „die Saat der Gewalt aufgeht“, so der Ex- „Republikaner“-Chef weiter, das habe die Solidaritätsdemonstration für Ayhan Ö. am ersten Prozeßtag ja schon offenkundig werden lassen. Rene G.s Vater hatte ein Urteil gefordert, das sowohl seinem Sohn als auch dem Angeklagten gerecht würde.

Ayhan Ö.s Verteidiger Friedhelm Enners hatte gleichfalls auf Freispruch plädiert. „Wenn man hier von der aufgehenden Saat der Gewalt redet“, griff Enners Pagels Stichwort auf, „dann muß man auch sagen, wer sie sät.“ Kein Mensch habe das Recht, auf die hier lebenden Ausländer loszugehen und „Heil Hitler“ und „Deutschland den Deutschen“ zu schreien. Wie schlimm die Saat der Gewalt aufgehe, habe die letzte Zeit gezeigt. Er könne nur hoffen, so Enners, daß sich nicht die Stichwortgeber durchsetzten, sondern die Menschen, die der Gewalt gegen Ausländer entschieden entgegenträten.

Für den Verteidiger stand zweifelsfrei fest, daß Ayhan Ö. keinen Entscheidungsspielraum mehr hatte, als er in Notwehr zum Messer griff. Die Deutschen — „es waren ganz klar Skinheads“ — hätten „bewußt die Waffen gezogen und den Kampf gewollt“. Dafür gab es für den Verteidiger nur einen Grund: „Sie konnten es nicht ertragen, daß drei Türken mit zwei deutschen Freundinnen in Marzahn unterwegs waren.“