Den Schleier des Schreckens zu zerreißen

■ Heute wird am Güterbahnhof Grunewald ein Mahnmal enthüllt zum Gedenken an die über 50.000 Berliner Juden, die ab dem 18. Oktober 1941 von hier aus in den Tod deportiert wurden/ Eine 18 Meter lange und drei Meter hohe Betonwand

Berlin. Der Mensch ist erst dann tot, wenn auch die Erinnerung an ihn gestorben ist. So steht es im Talmud. Zur Erinnerung an die über 50.000 Berliner Juden, die vom 18. Oktober 1941 an in den Tod deportiert wurden, wird heute am Güterbahnhof Grunewald ein Mahnmal enthüllt. Zu sehen ist eine 18 Meter lange und drei Meter hohe Betonwand, aus der — abdruckgleich — die Körper von sieben aufrecht gehenden Menschen herausgemeißelt sind. »Von den Menschen ist nichts geblieben, nur unser Gedächtnis«, sagte der aus Lodz stammende Bildhauer Karl Broniatowski, »und so habe ich versucht, diese Nichtexistenz zu materialisieren.«

Der Bahnhof Grunewald. Von hier aus rollte vor 50 Jahren der erste Vernichtungstransport, von den Nazis »Welle I« genannt, nach Lodz. Über 500 Berliner Juden wurden an diesem Tag in die Güterwagen gepfercht, sechs Tage später eine zweite »Welle«, ebenfalls mit 500 Menschen. Bis zum Februar 1945 rollten weitere 61 Transporte nach Lodz, Minsk, Kowno, nach Riga, Trawniki, Reval, und ab Januar 1943 direkt nach Auschwitz. Dazu kamen noch 117 Transporte ins sogenannte »Altersghetto« nach Theresienstadt. Zum Schluß, als die Rote Armee bereits Auschwitz befreit hatte und in Berlin kaum noch Juden lebten, fuhren die Züge immer noch — jetzt nach Ravensbrück und Sachsenhausen.

Etwa 35.000 Menschen wurden in den Osttransporten von Berlin aus in den Tod gefahren, sie wurden an den Ankunftsorten entweder sofort erschossen oder wenig später erschlagen, erhängt oder vergast. Fast 14.000 Menschen verhungerten in Theresienstadt oder starben in Auschwitz, wohin sie weitergebracht waren. Aus dem Osten zurückgekehrt sind nur wenige, aus Theresienstadt einige hundert, aus Lodz und Minsk je vier, aus Riga acht und aus Auschwitz 84.

Einer der aus Auschwitz zurückgekehrten ist Heinz Galinski, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde. Seine Pflicht sei das Erinnern und Mahnen, auch wenn es viele, wie er sagt, nicht mehr hören wollen. »Auf verbrannter Erde wächst kein Gras«, wird Heinz Galinski heute bei der Mahnmalenthüllung sagen, und »es kann auch kein Gras darüber wachsen, solange die seelischen, aber auch körperlichen Wunden derjenigen, die die Hölle der Vernichtungslager lebend verlassen konnten, nicht verheilt sind, solange das Gedenken jener währt, die ihre Familienangehörigen verloren haben, solange die Kinder der Rückkehrer aus den Lagern an ihrem schweren Vermächtnis zu tragen haben«.

Es ist eine Lüge, wenn die Berliner behaupten: wir haben nichts gesehen, nichts gehört, nichts gewußt. Die Deportationen, vorbereitet durch die Erstellung einer Judenkartei und der Stigmatisierung durch den Gelben Stern, fanden vor aller Augen statt. Bei den ersten Deportationen zerrten noch Gestapobeamte die Juden aus ihren Wohnungen heraus und brachten sie in die Sammellager, in die Synagoge in der Levetzowstraße, in das Jüdische Altersheim in der Großen Hamburger Straße, in das ehemalige Vergnügungslokal »Clou« in der Zimmerstraße oder in die Rosenstraße — alles Orte mitten in der Stadt. Es geschah am hellen Tag und war begleitet von Mißhandlungen und Beschimpfungen.

Später zwang die Gestapo die »Reichsvereinigung der Juden in Deutschland« zur Mitarbeit. Jüdische Gemeindebeamte mußten jetzt die Deportationslisten zusammenstellen und den Todgeweihten Merkblätter zusenden, in denen es hieß: »Unsere von der Abwanderung betroffenen Mitglieder müssen sich bewußt sein, daß sie durch ihr persönliches Verhalten und die ordnungsgemäße Erfüllung aller Anweisungen entscheidend zur reibungslosen Abwicklung des Transportes beitragen können.« Die Unglücklichen mußten sich jetzt selber bei den Sammelstellen melden und wurden von dort quer durch die Stadt und zu Fuß zum Bahnhof Grunewald und später auch Bahnhof Putlitzstraße getrieben. Auch die Mitarbeiter der »Reichsvereinigung« sind später ausnahmslos deportiert worden. Ihre Erfüllungsdienste aber wurden zu einer schweren Hypothek für die Überlebenden, die nach dem Krieg wieder mühsam versuchten, in Berlin eine neue Jüdische Gemeinde entstehen zu lassen.

Etwa 1.500 Berliner Juden entzogen sich den Deportationsankündigungen durch Untertauchen, viele von ihnen wurden von Mutigen versteckt, viele begingen Selbstmord. Es begann die Zeit der Razzien in Berlin. Gestapo, Kriminal- und Schutzpolizei machten Jagd auf Juden in U- und S-Bahnhöfen, auf Straßen und Plätzen und in den Fabriken. Dazu der Augenzeuge Walter Mischewsky: »Die Juden werden abgeholt, hier vom Bundesplatz. Wie ein Stück Vieh auf den Lastwagen geschmissen. Das habe ich gesehen. Das haben auch viele andere Bürger gesehen, die haben nicht etwa ,Hosianna‘ geschrien. Die kriegten ein Gesicht wie Zement, drehten sich um und gingen weg.« Solche Augenzeugen gibt es viele.

Wolfgang Scheffler, Professor am Institut für Antisemitismusforschung an der TU, sagt, daß man Verbrechen solcher Größenordnung nicht nur aus historischer Sicht betrachten könne. Es sei auch der politische und rechtliche Blick notwendig. Es gelte, »den Schleier des Schreckens jener Zeit« zu zerreißen, es gilt »die brutale Normalität des Gewesenen zu erkennen«. Die Deportation eines Teils der Bevölkerung wurde von der Bevölkerung als »unabänderlich«, günstigenfalls als »bedauerlich« empfunden.

Normalität darf das Wegschauen nie mehr werden, sagt jedoch Heinz Galinski, und die Erinnerung des 18. Oktobers 1941 sei auch eine aktuelle Mahnung, die Augen nicht vor den Gewalttaten gegen Ausländer zu verschließen. »Wir, als ehemalige Verfolgte haben die Pflicht und das Privileg, uns für Gruppen einzusetzen, die als Objekte des neuen nationalistischen Hasses des Schutzes der Gesellschaft bedürfen«. Aber nicht nur die einst Ausgegrenzten haben diese Verpflichtung. Auf der Tafel des Mahnmals am Grunewalder Bahnhof steht als letzter Satz: »Zur Mahnung an uns, jeder Mißachtung des Lebens und der Würde des Menschen mutig und ohne Zögern entgegenzutreten.« Anita Kugler