BERLINER PLATTENTIPS
: Empfängnishilfe

■ Es gibt viel zu tun, packen wir's an

Känguruh ist ein Musiktheaterstück, das im Februar dieses Jahres in der Neuen Bühne in Senftenberg uraufgeführt wurde. Regie führte damals Bernd Huber, und die Musik kam von Sandow, die mit der Veröffentlichung des Soundtracks nun endgültig ihre Mutation von Punkrockern mit Liedappeal zu kopflastigen Schwerverdauern abgeschlossen haben. Auf Känguruh schwillt es auf und ab, hektisiert es monoton ohne Unterlaß, klaklimpert newagiges Gedödel und jagen sich die inhaltsschwangeren Texte (»wir hängen an seilen wir können tanzen/ fieberndes fieberndes phlegma plasma«). Sehr beliebt sind auch düstere Trommelei und deklamierende Chöre, und Sandow haben allen Kredit verspielt, den sie sich durch ihre ersten Platten und das Auftreten im Film Flüstern & Schreien erworben haben. Prädikat: schwerer Stoff.

Die in der Stadt auch in anderen Formationen recht umtriebigen Peter Jakk (Bass), Ian Melrose (Gitarre) und Simone Reifegerste (Gesang) haben sich bereits vor einiger Zeit ein Wortspiel einfallen lassen und firmieren seitdem unter Be Mine Or Run. Ihr selbstbetiteltes Debüt glänzt vor allem durch technische Perfektion, technische Perfektion und technische Perfektion. Sie bieten recht flockigen, beschwingten Pop mit seltenen Ausflügen in den Jazz, von dem sie eigentlich herkommen. Nichts unterscheidet Be Mine Or Run vom Einheitsbrei aus dem Äther, außer vielleicht die Stimme von Simone Reifegerste, die sehr schön soulig klingen kann. Das Weihnachtsgeschenk für Leute, die das Altbekannte schon so lange kennen, daß sie nicht genug davon kriegen können — da kann man nichts falsch machen, weil auf dem Vinyl auch nichts falsch gemacht wird. Prädikat: Chris de Burgh.

Männer und ihre Gitarren, eine unendliche Geschichte. Steve Binetti hieß früher mal schlicht Stefan Bienek und spielte bei solch bekannten Kapellen wie Hard Pop, Cashmere und Pop Generation. Singen tut er auf Delphinum and Cynosure selten, dafür spielt er viel Gitarre. Meistens wie Hendrix, dessen Castles Made Of Sand er folgerichtig covert und dessen Stil, vor allem die Wechsel zwischen leisen, gezupften Passagen und vollen, verzerrten Akkorden, er kopiert. Die Strukturen bleiben (wie bei Hendrix) meistenteils im Blues verhaftet, aber Binetti schafft es ohne Zweifel, die Faszination des Instruments exzessiv wiederaufleben zu lassen, auch wenn er der Historie nichts Wesentliches hinzufügen will. Prädikat: Manche Tote leben ewig.

Over The Ocean, die neueste Veröffentlichung der Strangemen, wurde in Australien an einem Tag live im Studio eingespielt, und so hört sie sich auch an. Im Gegensatz zu ihrer letzten, von Grant Hart produzierten LP Best Chenc sind die fünf Songs (sieben auf der CD) von Over The Ocean wieder knarziger, trockener, kein bißchen filigran und zeigen, wozu die Strangemen live in der Lage sind: die beste Berliner Gitarrenband zu sein. Neue eigene Songs und Coverversionen wechseln sich munter ab, laut und krachend und wunderbar, aber wie wollen die Strangemen damit den internationalen Durchbruch schaffen, der nach Eigenaussage ihr vordringlichstes Ziel ist? Prädikat: Mount Rushmore.

Auch unsere anderen Berliner Lieblinge gehen nicht vom rechten Wege ab. Wie es sich für eine zünftige Rock'n‘Roll-Band gehört, muß spätestens nach der zweiten LP die Live-Platte her. Die Lolitas haben sich bis nach ihrer vierten Zeit gelassen, aber dafür sind auch 15 Lieder auf La Financée du Pirate, die den besten Krach von ihrer Europa-Tournee im letzten Herbst zusammenfaßt. Die Lolitas spielen ihre größten Erfolge im bewährten Unstil. Und wie es sein muß, wird auch nicht mit dämlichen Ansagen, durchgeknallten Verstärkern und fiesen Rückkopplungen gegeizt. Prädikat: Rock'n‘Roll will never die.

Emilio Winschetti und Tom Redecker, besser bekannt als The Perc Meets The Hidden Gentleman, sind nun scheinbar da angekommen, wo sie immer hinwollten. Auf ihrer dritten LP Lavender ist der Folk nur noch als Gerüst geblieben und die zerfaserte Zerstreutheit der ersten Platten angenehmer Konzentration gewichen. Statt dessen entfaltet sich die schwermütige Grundstimmung nahezu ungehemmt, in manchen Stücken vollends hin zum Gothic-Rock von Bauhaus oder den Sisters of Mercy. Vor allem das Timbre von Winschetti erinnert an Peter Murphy. Winschetti hat sich inzwischen einen Buffalo-Bill-Bart zugelegt, aber im Gegenzug den Großteil von Verschrobenheit aus der Musik des Duos getilgt. Das behält er sich für sein anderes Projekt The Mint vor. Prädikat: reifes Alterswerk.

Für Frauen in der populären Musik gibt es immer noch nicht allzu viele mögliche Images. The Slags wählten eines der gängigsten und machen da weiter, wo die Runaways und Joan Jett aufgehört haben: als Rock'n‘Roll-Schlampen. Auf ihrer ersten LP Everybody Seems To Know dreschen sie die Gitarren zur Freude des männlichen Geschlechts. Hier haben die Frauen das Nudelholz respektive den Baseballschläger in der Faust und die Männer unterm Pantoffel, ganz im Gegensatz zum augenaufschlagenden Heimchen-vom-Herd- Charme, z.B. der Bangles. Prädikat: Kim Fowley fänd's knorke. Thomas Winkler

Sandow: Känguruh (Fluxus/SPV)

Be Mine Or Run: Be Mine Or Run (Slow Motion Records)

Steve Binetti: Steve Binetti (Zong)

Strangemen: Over The Ocean (Vielklang/EFA)

Die Lolitas: La Financée du Pirate (Vielklang/EFA)

The Perc Meets The Hidden Gentleman: Lavender (Strange Ways/EFA)

The Slags: Everybody Seems To Know (Epic)