Aus Sehnen, Sehnsucht und etwas wie Demut

■ Die „Kleinen Geschichten“ der Susana Ibanez, Solotanztheater im Concordia

Ich hatte etwas Angst vor diesem Solo-Tanztheater der Susana Ibanez. Die Argentinierin lehrt und tanzt, u.a. die Lady in „Macbeth“ in Hans Kresniks Ensemble, seit 1987. Würde sie ihre Zuschauer auch so peinigen wie der wütende Bergbauernsohn Kresnik, der sich immer hingebungsvoller an seinen zahlenden VerehrerInnen für irgendetwas rächt, vielleicht den Mord an seinem kommunistischen Vater, der er als Kind nicht hindern konnte?

Sie würde nicht. Die Kleinen Geschichten, ihr zweites Soloprogramm, wie das erste 1990 mit der Regie von Ruben Szuchmacher erarbeitet, sind wie ein Kontrastprogramm zu den Kresnikschen Schockern. Kresnik quält und entlarvt seine Helden, Susana Ibanez tanzerzählt mit einer Prise ironischer Zärtlichkeit. Die Ibanez läßt viel Raum für die Figur auf der schwarzen, leeren Bühne, immer nur eine kleine Geschichte auf einmal, wobei die ersten beiden nicht mehr sind als ein in Bewegung aufgelöster Moment.

Wo bei Kresnik ein Meer aus Wut, Blut und Qual in der Erinnerung bleibt, erinnere ich hier unzerstörte Haut, ein dünnes gotisches Gesicht und kleine Gesten aus Sehnen und Sehnsucht und so etwas wie Demut.

Z.B. in der ersten Geschichte: Obwohl die Bühne schwarz und die Vorstellung acht Uhr abends ist, ist es früh. Denn durch die Arme der Frau mit Overall und nackten Füßen rieselt Morgensonne in den Zuschauerraum und die Lust, sich entgegenzurecken. Die Frau legt sich auf den Boden, sie streckt erst den einen, dann den anderen abgeknickten Fuß lang, der Oberfläche der Erde nach. Das ist so eine demütige Geste, die haften bleibt und Lust und Stille transportiert. Wie die Töne von Tosha Suiho, die spröde aus einer Flöte rinnen. Wenn der Ton plötzlich ein bißchen überkippt, kündigt das nicht an, daß jedes Idyll Lüge und zu entlarven ist. Sondern Gespanntheit, Überdehnung, die demnächst in die Arme der Tänzerin fahren wird.

Das zweite Stück, Farewell, ist das kürzeste, ich liebe es. Die Frau trägt ein Kleid der Gesellschaft und Gesten, mit denen die Gesellschaft die Trauer des Abschieds ausdrückt und verhüllt. Die auf der Wange streichenden Finger sind zugleich: die Tränen, das Abwischen, aber auch die Rührung, die erwartet wird und die man vorzeigt. Und dann kommt der Moment, da reißt es der Frau das Gesicht auseinander, und dort, wo vorher der Mund war, ist ein Krater. Der Moment, in dem der Schmerz ankommt, den nichts mehr bändigt.

Die dritte Geschichte ist über die Liebe. Liebe reimt sich auf argentinische Tangos, und sie hat mit Vereinigung zu tun. Deshalb braucht sie ein doppelbrüstiges, rotes Sofa in Bühnenmitte, auf dem es passiert. Der Liebe erste Phase beginnt mit der Verlockung, die, wie schon die Bibel richtig lehrt, der Aktivität der Frau obliegt, aber ein hochriskantes Geschäft ist. Sie streckt den pumpsgeschützten Zeh aus, um die Kälte des Ozeans zu testen, der sie verschlingen wird. Sie zuckt zurück und versucht es mit dem Hangeln des ganzen schönen, nackten Beines über die Sofalehne, und immer so weiter und immer neu. Die Phase der Anbahnung endet mit dem Sprung ins kalte Sofa, gehechtet. Erst danach kommt Phase zwei, die Preisgabe der Unverletzlichkeit des Körpers. Das Weib entkleidet sich, es windet sich zum tange argentino, vor Verlockung und vor nackter Angst.

Den Akt kann man, wie alle echten Wunder, nicht selbst erkennen, außer an seinen Folgen. Der Mensch steht auf und ist verwandelt, ist jetzt ein Mann. Man sieht es am Gang, daran, daß er beständig geht, aber immer wieder kommt und am Ende im Kugelhagel an der Rampe stirbt.

Die vierte Geschichte erzählt das Leben des Menschen. Das ist ganz einfach. Es besteht aus Anfang, Mitte und Ende. Der Anfang geht so: Eine schmale Frau mit einem schlottrigen Mantel auf der bloßen Haut stürmt auf die Bühne, zielbewußt, wichtig, geschäftig, läuft auf die Wand zu und stoppt in sicherm Abstand davor, staunt. Dann vor der zweiten, der dritten Wand. Der Mensch erkundet die Welt, in die er geworfen, mit Ungestüm und Sicherheit. Er trägt eine Binde vor Augen, bis zu seinem Ende. Er sieht nichts und weiß alles. Er ist unglaublich dreist, ziemlich komisch, sehr rührend und sehr geheimnisvoll. Man kann ihn nicht erklären, aber tanzen kann ihn Susana Ibanez. Uta Stolle