Lenin wird spätestens in 400 Jahren wiederkommen

■ Wie der marxistische Wirtschaftswissenschaftler Jürgen Kuczynski ein Interview, das eigentlich vom Abriß des Lenin-Denkmals handeln sollte, in ein nettes Plauderstündchen durch die Weiten historischer Einschätzungen verwandelte

Prof. Dr. Jürgen Kuczynski war zu DDR-Zeiten ein unbequemer Marxist. Schon früh begrüßte der heute 87jährige — ganz im Gegensatz zur DDR-Führung — Gorbatschows Perestroika. Vor allem pries er die Rückkehr zu »Lenins Denken«. Jahrelang stand Kuczynski auf der Liste der Kandidaten des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaftler. Kuczynski, der aus einer berühmten großbürgerlichen Familie stammt, lebte während der NS-Zeit im englischen Exil, kehrte nach dem Krieg nach Berlin zurück und wohnt seit 1950 in Berlin-Weißensee. Sein Haus ist eine einzige Bibliothek: 13 Räume sind allein für Bücher bestimmt.

taz: Diese Woche ist beschlossen worden, das Lenin-Denkmal in Friedrichshain abzureißen. Wie stehen Sie, als einer, der sich immer wieder auf Lenin berufen hat, dazu?

Jürgen Kuczynski: Also — Lenin wäre hundertprozent gegen das, was ich im Folgenden sagen werde. Er war der bescheidenste Staatsmann, von dem ich je gehört habe. Es gab eine Sitzung des Zentralkomitees, in dem nach seinem Tode über das Mausoleum gesprochen wurde, und seine Frau, die Krupskaja, hatte Tränen des Zorns in den Augen über diese Art, mit Lenin umzugehen. Ich hingegen bin natürlich unbedingt dafür, daß er ein Denkmal verdient. Wissen Sie, Lenin ist für mich der realistischste Staatsmann. Er hat gesagt, er hoffe, daß seine Kinder oder vielleicht seine Enkel einmal eine sozialistische Gesellschaft erleben würden. Er hat stets von einer Mischgesellschaft in Sowjet-Rußland gesprochen, von einer kapitalistischen Gesellschaft, weil er begriffen hatte, daß die kapitalistische Gesellschaft — bei aller Feindschaft zwischen Kapitalismus und Sozialismus — die fortgeschrittenste vor dem Sozialismus war, insbesondere was die Produktivität betrifft. Und wenn Sie daran denken, daß wir in der DDR der Produktivität der alten BRD um 40 Prozent unterlegen waren, und daß Lenin der Ansicht war, daß sich die wahre Überlegenheit des Sozialismus in einer höheren Produktivität als der des Kapitalismus zeigen wird, dann werden Sie verstehen, wie grimmig er gelächelt über die Idee hätte, daß wir in der DDR einen realen oder gar entwickelten Sozialismus hatten. Eine der wenigen vernünftigen Sachen, die ich getan habe, war, immer von dem »sich entwickelnden Sozialismus« zu sprechen. Aber auch das ging schon zu weit. Wir hatten sozialistische Elemente, aber keine sozialistische Gesellschaft.

War das Lenin-Denkmal also schon bei seiner Aufstellung 1970 ein Anachronismus, weil die Ideen Lenins in der DDR gar nicht Wirklichkeit geworden waren?

Das Denkmal entsprach nicht der Realität, weil wir keine Ahnung hatten, was Lenin in unserer Situation getan und gesagt hätte, insbesondere was die Demkoratie betrifft. Wir brauchen nur seine Schriften lesen, um zu sehen, wie gefährlich er in der DDR gewesen wäre. Wissen Sie, ich habe ebenso viele Orden wie Parteistrafen und angedrohte Parteistrafen bekommen. Aber er, Lenin, hätte nur Parteistrafen bekommen.

Er hatte einmal auf dem Dritten Weltkongreß der Kommunistischen Internationale 1921 einen Streit mit Thälmann gehabt. Thälmann beklagte sich, daß man offen in der deutschen Kommunistischen Partei über Fehler gesprochen hatte. Lenin antwortete, wer sich aus Angst vor den Feinden scheut, offen über die eigenen Fehler zu sprechen, ist kein Revolutionär. Es gibt zudem ein wundervolles Telegramm von Lenin, das er am 1. Jnauar 1919 an führende Genossen sandte. Es fängt an: »Liebe Genossen, ich wünsche Euch ein schönes neues Jahr und ich hoffe, daß wir im neuen Jahr weniger Dummheiten machen«.

Der Abriß des Lenin-Denkmals wäre also solch eine Dummheit?

Es ist mehr, es ist eine geschichtliche, historische Dummheit, daß man nicht begreift, wer Lenin war. Für mich gibt es nur zwei wirklich große Staatsmänner: der eine ist Perikles im antiken Athen und eben Lenin in diesem Jahrhundert.

Nun wird von den Befürwortern eines Abrisses argumentiert, das Denkmal sei Ausdruck eines totalitären Staates.

Daß Lenin heute sehr oft mit Stalin auf eine Stufe gestellt wird, ist natürlich absoluter Wahnsinn. Er war keineswegs begeistert von Stalin. Als Stalin Generalsekretär wurde, hat er nach einiger Zeit der Partei davon abgeraten, Stalin weiter in dieser Funktion dienen zu lassen.

Die schärfsten Kritiker des Denkmals sagen, daß Lenin auch für einen undemokratischen Geist stehe und ein Lenin-Denkmal daher in einer demokratischen Gesellschaft keinen Platz haben könne.

Ich will Ihnen dazu eine Geschichte erzählen, die mir Lenins Sekretärin, die Stasowa, erzählt hat. Der englische Schriftsteller, H. G. Wells, der das Science-fiction- Genre erfunden hat, besuchte Lenin und versuchte, ihn mit seinen Fragen hereinzulegen. Aber es gelang ihm nicht. Zum Schluß sagte Lenin: »Herr Wells, plaudern wir ein bißchen.« Und Wells sagte: »Furchtbar gern Herr Lenin, aber ich habe noch eine Frage: Noch nie habe ich so viele unzufriedene Menschen hier in Moskau gesehen.« Lenin sah ihn an, strahlte und sagte: »Ja, ist das nicht großartig. Sehen Sie, wenn sie sich über die Dinge ärgern, tun sie alles, um sie zu verändern. Das ist nur möglich in einer Gesellschaft, in der die Menschen motiviert sind, weil sie das Gefühl haben, sie können was tun.« Natürlich war das in den Jahren von 1918-21, des Bürgerkriegs und der ausländischen Intervention, nicht möglich. In einem Schützengraben kann man keine Demokratie haben. Aber als alles vorbei war — die Neue Ökonomische Politik und das Bemühen, die Kritik von unten zu fördern — ach, was war das für eine Presse damals. Großartig. Zum Beispiel habe ich Karl Radek, den besten Journalisten unter allen Marxisten, bei meinem ersten Sowjetunion-Aufenthalt 1930 kennengelernt. Ich war damals ein junger Kommunist und schrecklich naiv. Es fiel mir auf, daß er dauernd antisowjetische Witze erzählte. Nach einer Weile hielt ich es nicht mehr aus und sagte: »Genosse Radek, warum erzählen Sie so viele antisowjetische Witze.« Daraufhin sagte er: »Sehr wichtig, Genosse Kuczynski, die verkaufen wir gegen Devisen an den Feind.« Das war der letzte Hauch von Lenins Zeit, den ich noch erlebt habe.

Es gibt den Vorschlag des CDU- Abgeordneten Lehmann-Brauns, ein Panoptikum realsozialistischer Denkmäler am Rande der Stadt einzurichten, um dort das Lenin-Denkmal — neben anderen — auszustellen.

Ich kenne eine ganze Reihe Figuren, die in das Panoptikum passen, aber Lenin nicht.

Welche?

Na, (lacht) zum Beispiel Günter Mittag (ehemaliger DDR-Wirtschaftsminister — d. Red.).

Von Mittag gibt es aber kein Denkmal...

Oh, wissen Sie das so genau... (lacht)

Befürworter des Denkmals sagen: Wenn schon Lenin abgebaut wird, müßten auch andere Denkmäler in der Stadt fallen, etwa die Bismarck-Statuen, die ebenfalls kaum mit dem Begriff von Demokratie in Zusammenhang gebracht werden können.

Nein, auf gar keinen Fall. Bismarck war doch eine ganz große Gestalt. Ich meine, wenn es ein Hitler- Denkmal gebe. Oder (lacht) ein Kohl-Denkmal, dann wäre ich mit dem Abbau einverstanden.

Kohl hält also dem Vergleich mit Lenin nicht stand?

Nein, es gibt viele überflüssige Denkmäler, aber einige wie Lenin oder Käthe Kollwitz — die sind völlig berechtigt.

Es ist allgemein vom Untergang des Sozialismus die Rede...

Nein, nein, entschuldigen Sie, das ist kein Niedergang des Sozialismus, sondern einer der ersten schlechten Versuche, eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen.

Sie glauben also daran, daß bei einem neuen, besseren Versuch Lenin eines Tages wieder aufgestellt wird?

Aber bestimmt, aber bestimmt. Da bin ich ganz sicher. Ich habe gerade ein Büchlein geschrieben, in dem ich zeige, daß es im 14. Jahrhundert in Norditalien einen blühenden Kapitalismus gegeben hat und danach wieder 400 Jahre Feudalzeit. Die meisten neuen Gesellschaften beginnen mit einem Vorspiel, das nicht gelingt. Ich würde aber auch sagen, daß der Kapitalismus im 14. Jahrhundert in Norditalien viel gelungener war, als der reale Sozialismus ab 1932. Aber der Beginn war großartig.

Wird denn die Zeit wiederkehren, wo man sich auf Lenin wieder besinnen wird? Zur Zeit ist er ja nicht gerade in Mode...

Nein, das kann man wahrlich nicht sagen (lacht) ... Aber das wird die Verjüngung der Ideen des Sozialismus bringen, daß man wieder von Lenin lernt, auch von Gramsci (italienischer Marxist — d. Red.) und auch von Marx und Engels, die wahrhaftig deutlich über vieles gesprochen haben. Darum sage ich immer: Die neue Wende werde ich nicht mehr erleben, aber die Vorfreude auf sie kann ich schon heute haben.

Sie sind also optimistisch, daß irgendwann in ferner Zeit in Berlin wieder ein Lenin-Denkmal stehen wird?

Ja, ja, gewiß. Und ob man das jetzige für diese, spätere Zeit aufheben sollte...? (lacht) Ich könnte mir auch ein schöneres Denkmal vorstellen. Interview: Severin Weiland