Das fünf Jahrtausende altes Spiel

■ Eine Diskussion über jüdische Kultur in der UdSSR und in Deutschland im Literaturcafé »Wolkenbügel«

Es war kaum zu erwarten, daß die Erörterung des Themas »Jüdische Kultur in der UdSSR und in Deutschland«, das in der vergangenen Woche im Literaturcafé »Wolkenbügel« diskutiert werden sollte, Klarheit in ein großes und verwirrtes Knäuel verschiedenartiger Probleme bringen würde. Und tatsächlich, obwohl man über viel redete, konnte man im Grunde erst einmal Bekanntschaft mit dem jungen Literaten Oleg Jurijev machen, der vor einigen Monaten aus dem ehemaligen Leningrad kam und jetzt in Frankfurt am Main wohnt. Der Gast kündigte schon früh an, daß er nicht versuchen werde, den Begriff »jüdische Kultur« zu präzisieren, derart einfach sei die Frage auch nicht. Tatsächlich ist diese Selbstidentifizierung eine der schwierigsten Voraussetzungen für die Kommunikation zwischen den Völkern. Die jüdische Kultur — im engeren Sinne des Begriffs — brach in Rußland zusammen. Nicht nur deshalb, weil Stalin die Blume der jüdischen Intelligenz zerstörte, sondern auch aufgrund der katastrophalen Russifizierung: Schon in der letzten Generation verloren viele Menschen ihre Sprache und Gebräuche. In einem Land wie Rußland, wo sich die Kultur an ein breites Publikum wandte und eher an Ethik und Politik appellierte, als an die Ästhetik, ist es schwer, sich als Fremder zu empfinden. So ist nicht verwunderlich, wenn man einen »Fremdling«, indem man diese Spielregeln befolgt, früher oder später fragt: »Und was bist du für einer?« — geh und beweise, daß du, obwohl Jude, auch Schriftsteller bist — ein russischer Schriftsteller, so wie es auch Boris Pasternak für sich empfand. Man wird korrigiert: nicht russisch sondern russischsprachig. Oder man tritt fest auf: russischer Schriftsteller von jüdischer Herkunft. Hier jedoch, in Deutschland, und besonders in Israel, halten sie dich vor allem für einen Russen. Man verliert in solchen Situationen das Gleichgewicht. Vielleicht ist die beste Möglichkeit, es wiederzufinden, sich selbst als schreibenden Weltbürger einzuschätzen. Der sowjetische Staat betrieb über Jahrzehnte hinweg geheime, aber harte antisemitische Politik. Die Erfahrung der Großväter und Väter lehrte früh, vor einem Zusammenstoß zu flüchten und nicht den Versuch zu unternehmen, dem Staat zu zeigen, daß er im Unrecht sei; so bildete sich eine Strategie des »ekligen Umgangs mit der Unsauberkeit« aus. Den Grund des überbordenden alltäglichen Antisemitismus erklärte Oleg Jurjev elegant mit dem Prinzip einer Umwälzpumpe: die Veränderungen in der Sowietunion (und der damit abflachende staatliche Antisemitismus) füllte ein Vakuum in der Bevölkerung, getreu dem russischen Sprichwort: ein heiliger Platz bleibt niemals leer.

In der Kabbala, der mystischen jüdischen Lehre, ist geschrieben, daß jedes Volk seinen Schutzengel hat, — außer die Juden, die mit ihrem Gott durch einen direkten Vertrag verbunden sind. Das bedeutet eine große Freiheit des Handelns und der persönlichen Verantwortung. Ein seltsames Spiel, das vor mehr als fünf Jahrtausenden begann, setzt sich fort: Gefangenschaft, Vertreibung, Auferstehung, Verstreuung... Es ist offensichtlich, daß sich dieses Herumdrehen verlängern wird, bis die Menschen irgend etwas gelernt haben. Niemand will konsequent das Vermächtnis seiner Religion und Kultur erfüllen — weder die Christen noch die Moslems, — die Juden nicht ausgenommen. Das ist die Realität. Wir wissen, wie man vorgehen muß, aber oft halten wir es nicht aus.

Die Menschen, die dies wollen — oder nicht wollen —, können vielleicht an verschiedenen Kulturen teilnehmen, und wie der Schöpfer, so auch der Abnehmer. Die Kultur der Überreste des europäischen Judentums schließt sich an die allgemeineuropäische, vielsprachige »konvertierbare« Kultur an. Ossip Mandelstam nimmt an ihr genauso teil wie Paul Celan. Wer ist das, Paul Celan: ein Deutscher kaum, ein österreichischer, ein rumänischer oder ein jüdischer Poet? Und Franz Kafka? Anna Seghers? Kurt Tucholsky? Ist es vielleicht besser, nicht zu denken, wer wer ist? Denn die jüdische Kultur mit dem kleinstädtischen »Juden mit der Geige« zu identifizieren, der sich wie ein Exotikum auf dem Broadway hielt, ist unbegründet und falsch.

Das Gespräch über all diese komplexen Fragen ist wegen der Unübersichtlichkeit und Größe zum Scheitern verurteilt. Es glitt von einem Thema zum anderen, zum nächsten und wieder zurück. Fragen prasselten nieder: Was verbinden Sie mit dem Begriff »russische Seele«? Warum kommen die Juden hierher? Ist es nicht schwierig für den Juden, in einem Volk zu leben, das einen Genozid beging? Letzteres war mehrmals zu hören. Eine Antwort darauf: Kaum ein Individuum ist berechtigt, über die kollektive Verantwortlichkeit eines Volkes vor einem anderen, über Verzeihen oder Nichtverzeihen — im Namen eines ganzen Volkes, im Namen vieler Millionen Opfer zu befinden. Zum Glück findet dieses Gespräch auf einem persönlichen Niveau statt, und hier taucht die Frage über die historische Schuld nicht auf. Könnte man es denn anders überleben?

Dank der glänzenden Synchronübersetzung von Susanne Rödel wurde es ein lebendiges und interessantes Gespräch, auch wenn eine junge blonde Frau immer wieder auf ihren Fragen bestand: »Warum ermordet man in Israel die Palästinenser? Warum gibt man ihnen nicht die gleichen Rechte, vertreibt sie von ihrem ureigenen Gebiet?« Antworten kamen ihr nicht zu Ohr, Widerspruch nahm sie nicht entgegen — aber das ist bereits ein völlig anderes Thema... Maja Elik/Übersetzung

Susanne Landwehr

Die Autorin ist sowjetische Jüdin und lebt seit Juni 1990 im Osten der Stadt.