: Fußgänger-Tempo für alle
■ In München fördert das Verkehrschaos die Selbstverwirklichung von manch einem Querulanten
München ist die Stadt der Reichen, der Singles, der BMWs. Durch die Straßen der Bayernmetropole schiebt sich Tag für Tag die Blechlawine. Auf 1,27 Millionen Einwohner der »Weltstadt mit Herz» kommen rund 700.000 angemeldete Kraftfahrzeuge. Statistisch hat also jeder zweite Münchener einen Wagen. Zum Vergleich: Auf 3,4 Millionen Berliner kommen rund 1,4 Millionen KFZ-Anmeldungen, so das Berliner Landesamt für Statistik — Tendenz steigend. Doch im Gegensatz zu Berlin kann München nur mit wenigen breiten und verkehrsschluckenden Straßen aufwarten. Hinzu kommt, daß zusätzlich noch rund 500.000 auswärtige Pendler Münchens Straßenlabyrinth verstopfen. Was die Münchener trotz des alltäglichen Chaos keineswegs davon abhält, weiter auf ihr Auto zu setzen. Besonders schlimm sieht es für den alltags- und verkehrsgestreßten Münchener Single am Abend aus, wenn er im schicken Schwabing einen Parkplatz sucht. Runde um Runde wird das Lenkrad bemüht, und wenn alles nichts nützt, rücksichtslos auf dem Gehweg geparkt. Auch tagsüber ist es nicht besser: Für Fußgänger türmt sich das Blech zu unüberwindlichen Hindernissen auf. Wer da gehbehindert oder gar blind ist, hat das Nachsehen. Doch im Gegensatz zum viel- und allerorten gepflegten Vorurteil, die Münchener seien lammfromm und staatstreu, ruft das Thema Verkehr manche Bürger des bayerischen Freistaats mit witzigen und nachahmenswerten Aktionen auf die Barrikade.
Beispiel 1: Als 1985 im Stadtteil Haidhausen das monströse Kulturzentrum »Gasteig« vollendet wurde, nahm sich eine Gruppe Unbekannter der teuren Blechkisten auf ungewöhnliche Art an. Wenn die betuchten Konzertbesucher nach erholsamen Klängen vor ihren Wagen standen, blieb ihnen sprichwörtlich die Luft weg: Eine Initiative »Aktion- Pfft« hatte sich erfolgreich an den Reifen zu schaffen gemacht. Inzwischen ist es ruhiger um die Initiative geworden. Denn in Haidhausen herrscht wie auch im Stadtteil »Lehel« seit Rot-Grün der strenge Zwang der »Parklizenz«. Nur wer Anwohner ist, darf gegen einen Obulos von 200 Mark pro Jahr seinen Wagen abstellen, wie der Rathausmitarbeiter der Grünen, Reinhardt Kleinöder, erläutert.
Beispiel 2: Weil die für Behinderte reservierten Parkplätze ständig belegt sind, haben Behinderte schon öfters die Stadt nach Parksündern durchstreift. Ein Anruf und die Wagen werden abgeschleppt. Der Erfolg ist zwar mäßig — doch den Stadtsäckel freut es.
Beispiel 3 ist ein Münchener Unikum und ein ausgewiesener Autohasser: Michael Hartmann. Vor vier Jahren hatte er genug. »Die Autos regten mich total auf«, erklärt der heute 25jährige Student der Sonderpädagogik. Spontan faßte er eines Morgens den Entschluß, doch einfach über die Autos hinwegzusteigen. Zunächst nahm er sich die leeren Wagen vor, später dann auch die besetzten. Die meisten Fahrer und Fahrerinnen waren völlig überrascht, rissen die Türen auf und fragten verdattert, ob er das überhaupt dürfe. Anfangs ließ ihn die Polizei unbehelligt, später verfolgten sie ihn regelrecht, stellten ihn einmal sogar breitbeinig an die Wand und durchsuchten ihn, »als ob ich Terrorist wäre«. Bis Ende 1989 hatte Hartmanns Füße nach eigenen Schätzungen rund 300 leere und etwa 30 besetzte Wagen überquert. Seitdem er schon zweimal wegen Sachbeschädigung verurteilt wurde, läßt er von seinem grimmigen Hobby ab. Kapitulieren tat er indes keineswegs. Aus einem der Urteile zog Autohasser Hartmann seine eigenen Schlüsse: Weil einer der Richter ihm vorgeschlagen hatte, um die Autos herum, statt über sie herüber zu laufen, drehte er den Spieß einfach um. Im Frühjahr und Sommer letzten Jahres ließ er sich auf zwei der verkehrsreichsten Straßen der Stadt nieder und machte für eine Dreiviertelstunde »Brotzeit«. »Die Autos«, sagt er nicht ohne Stolz, »mußten einfach um mich herum fahren.« Nach der zweiten Blockade erfolgte eine Verurteilung wegen »Nötigung«. Auch nach diesem Urteil gab er nicht auf. Alle Autos, die ihm den freien Schritt nehmen, zeigt er wegen desselben Tatbestandes an. Die Verwaltung werde von seinen Nötigungs-Anzeigen regelrecht überschwemmt.
Hartmanns Utopie heißt Tempo 20, also parktisch Stillstand für die Autos. Mit ein paar Gleichgesinnten zog er in diesem Sommer durch Münchens Straßen. Mit Fahrrädern und Spruchbändern wurden Straßen blockiert. Deswegen steht ein neues juristisches Nachspiel an. Zum Gerichtstermin am 23. Oktober wird Hartmann, wie er versichert, nicht erscheinen. Denn als er vor kurzem wieder einmal nach eigenem Gusto die Straße kreuzte, mußte sein rechter Fuß daran glauben. Seither ziert ihn ein Gipsverband. Doch Hartmann bleibt hart: »Nun werde ich eben mit Krücken die Straße diagonal überqueren und mir dabei möglichst viel Zeit lassen.« Severin Weiland
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