BALD SIND SIE UNTER UNS Von Philippe André

Vor ein paar Wochen wurde durch Zufall bekannt, daß ein Berlin unter Berlin existiert. Mitten in der Stadt sackte ein Stück Gehweg ab und riß eine ahnungslose Bürgerin hinab. Mit Grauen dachten wir sofort an das Paris der 70er Jahre, als dort mehrfach Straßenstücke um den Montmartre in sich zusammenfielen und der staunenden Stadt Stück um Stück eine längst vergessene Unterwelt offenbarten. In großen unterirdischen Räumen fand man unzählige Opfer der letzten großen Choleraepidemie.

Und hier? Zugegeben, meine ersten Assoziationen waren keine schönen. Bei der Vergangenheit! Aber Fehlalarm! Denn heute ist klar: Berlin ist sauber unterkellert. Hunderttausende Kubikmeter Beton sind an den verschiedensten Stellen in zehn bis 30 Metern Tiefe verbaut worden. Unterm „Alex“ etwa steht noch ein vierstöckiger Kriegsbunker. Ein Tunnel führt vom Treptower Park zur Stralauer Halbinsel, ein weiterer kriecht unschlüssig Unter den Linden entlang. In Kreuzberg führt eine 800m lange Röhre unter der Dresdner Straße ins Nichts, und unter dem ICC-Gebäude wurde eine ganze U-Bahn-Station gebaut. Nie genutzt, nur gebaut. Aber auch im künftigen „Regierungsviertel“ befinden sich insgesamt 280m dralle Betonschläuche, die einst zu der von Hitlers Speer geplanten „Großen Halle“ führen sollten. Apropos Regierungsviertel. Nachdem der Berliner Senat letzten Dienstag das Gelände für das künftige deutsche Politzentrum vorläufig festgelegt hat — 220 Hektar Filet-Mignon-Stücke im Herzen der Stadt, zwischen Schloß Bellevue, Humboldthafen, Friedrichstraße, Brandenburger Tor und Marx-Engels-Forum im Osten — und der Arbeitsstab Bonn/Berlin dem Kabinett eine neue „Umzugsmischform“ vorlegte, ist unschwer zu erkennen: Regierung, einige wichtige Ministerien und der Bundestag werden kommen, der Rest bleibt erst mal in Bonn. Biedert sich da nicht ein großer Gedanke geradezu an? Bei all der Raumnot hier wäre doch die „Versenkung“ der Ministerien eine elegante Lösung. Das Außenamt könnte locker unter den Alex gepackt werden, das Wirtschaftsministerium unter das protzige ICC, und Kohls Kanzleramt wäre in Kreuzberg gut aufgehoben. Nee, jetzt ma ehrlich! Mensch, wir wären die ersten Hauptstädter der Welt, die ihren Volksvertretern den Platz bieten, der ihnen wesentlich zukommt: unter uns zu leben! Auch würde den „Sicherheitsbedürfnissen“ der Politiker voll entsprochen — ohne Bannmeile! Die dezentralen Komplexe könnten überdies mit einer superschnellen Reiseröhre verbunden werden. Und von den guten Aussichten unserer Morlocks in spe, auf die ohnehin üppigen Diäten noch ein Untertagegeld schlagen zu können, will ich gar nicht erst reden. In jedem Falle wäre somit Platz in Hülle und Fülle geschaffen, für Parks, billigen Wohnraum und andere sinnvolle Dinge. Und sollten sich Don Etzhard, die Sony-Clique oder sonstwer auf dem Potsdamer Platz nicht so richtig wohl fühlen können: dann kommet und mischet Euch unters Volk!