DIE NATUR BRAUCHT RUHE

■ In Bad Wurzach diskutierten unter der Ägide des Europarats Naturschutz-Manager und Regierungsvertreter über die Probleme mit dem Tourismus

In Bad Wurzach diskutierten unter der Ägide des Europarats Naturschutz-Manager und Regierungsvertreter

über die Probleme mit dem Tourismus

VONERWINSINGLE

Der Weg zu dem verträumten Rokoko-Kunststädtchen Bad Wurzach ist beschwerlich. Auf den mit Schlaglöchern durchsetzten engen Straßen Oberschwabens ist an ein zielstrebiges Vorankommen kaum zu denken. Die Gegend gilt als besonders reizvoll, und die Fremden kommen nicht gerade spärlich. Hier, inmitten der stillen Moränenlandschaft, beginnt das größte zusammenhängende Hochmoorgebiet Mitteleuropas. Seit zwei Jahren zählt ein 14 Quadratkilometer großes Refugium zu den ausgewiesenen Naturschutzgebieten von europäischer Bedeutung. Versehen mit einem Diplom des Europarats steht es an der Spitze der rund 600 Schutzzonen allein in Baden-Württemberg. Über 700 Pflanzenarten haben sich im Ried gehalten, ein Drittel davon stammt noch aus der Eiszeit. 1.000 verschiedene Tierarten konnten nachgewiesen werden, die wenigsten davon sind bisher untersucht. Doch die Naturschützer werden nicht ganz froh: An allen Ecken und Winkeln drücken sich Naherholer, Tagesausflügler und Kurgäste in die Schutzzone, wie Horst Weiser weiß. Wenn es nach dem Leiter des Wurzacher Naturschutzzentrums ginge, wäre das Moor längst als „Tabuzone“ ausgewiesen und die Spaziergänger an die Pheripherie verbannt.

„Wir haben in allen Reservaten genug Besucher, mehr können wir nicht zulassen.“ Jean-Pierre Ribaut, Umweltschutz-Beauftragter des Straßburger Europaparlaments, ist mit weiteren 60 Schutzgebiets-Managern und Regierungsvertretern aus 21 europäischen Staaten in Wurzach zu einer einwöchigen Fachkonferenz zusammengekommen. 33 diplomierte Naturschutzgebiete gibt es in Westeuropa, alle sind sie unersetzliche Biotope einmaliger Spezies, alle haben ihre liebe Not mit dem Tourismus: Fast wie beim „Briefmarkensammeln“, so ein Teilnehmer, müßten manche Naturverrückte die Parks gesehen haben — ein Trend gerade in der „Upperclass“, wie Ribaut anfügt. Anderen machen die Freizeitbesucher Kummer. „Sie wollen Natur verbrauchen, weil sie schön ist“, schilt ein Kollege, „von ihr selbst wollen sie nichts wissen.“

Daß der Tourismus auch in Naturschutzgebieten immer mehr zu einem Problem wird, ist bei allen Teilnehmern unumstritten. Seit Natur zum wichtigen Erlebnis geworden ist, haben sich nicht nur die Naturparks zu wahren Publikumsmagneten entwickelt. Gut 40 Prozent der Deutschen, so haben Demoskopen erfragt, wollen in Urlaub und Freizeit ausschließlich Natur genießen. Der Einfall touristischer Horden, angetrieben von einer emsigen Tourismusindustrie, macht selbst den letzten Winkel zum Ausflugsziel. Die Verwüstungen sind verheerend: Surfer walzen Schilfzonen nieder, Mountain-Biker rutschen über Flora und Fauna hinweg, Jogger trampeln Pfade aus, Spaziergänger stapfen ohne Rücksicht abseits der Wege, wilde Camper nutzen abgelegene Stellen. Alles in allem: die Zukunftsaussichten für unbeschädigte Naturnischen sind düster.

Die Naturschützer wollen daher den Besucherstrom eindämmen und in geeignete Bahnen lenken. In den besonders schutzwürdigen Kernzonen als „Sperrzonen“ solle der Natur absoluter Vorrang gegeben werden, beschreibt Winfried Krahl von der baden-württembergischen Landesanstalt für Umweltschutz das vorgeschlagene Maßnahmenbündel. Dazu sind schärfere gesetzliche Regelungen und eine bessere Überwachung unumgänglich. In bestimmten Reservaten müsse nach Wegen für einen sanften Tourismus gesucht werden. Vorrang soll dabei die Schonung und Ruhe der Natur haben. Die Touristen will man abfangen, ihre Freizeitbedürfnisse sollen nach Möglichkeit mit Einrichtungen im Umfeld oder noch besser in der Nähe der Ballungszentren befriedigt werden. Die in Wurzach diskutierten Strategien werden in einem Entscheidungspapier zusamengestellt und sollen vom Ministerrat abgesegnet werden. Es gelte, so ermahnte Krahl, endlich eine Vorwärtsstrategie zu entwickeln. Diese Diskussion dürfe aber nicht nur auf Schutzgebiete verengt werden, fügt Tagungsleiter Ribaut hinzu, sonst könne der Eindruck entstehen, was nicht geschützt sei, habe keinen Wert.

Die Lüneburger Heide, 20.000 Hektar groß und im Einzugsbereich Hamburgs gelegen, wird jährlich von drei Millionen Besuchern heimgesucht. An schönen Wochenenden rollen Tausende Autos heran. Die Grenze der Belastbarkeit sei damit längst erreicht, wie der Parkschützer Karl Menneking berichtet. Ihm sind die Tagesausflügler ein Dorn im Auge, „die nur ihre Freizeit totschlagen wollen“. „Der läuft auf kürzestem Weg vom Parkplatz zur Kneipe“, so Menneking, das einzige Kriterium sei, „ob Kaffee und Kuchen genausogut wie zu Hause schmeckten.“ Er ist wie die meisten Teilnehmer der Meinung, daß touristische Einrichtungen allenfalls an den Rand von Schutzzonen gehören. Es sei ein Trugschluß, pflichtet Michael Held vom Naturpark Bayerischer Wald bei, auf einer Fläche Naturschutz und Tourismus zuzulassen. Der Fraktion derer, die ihre Reservate gerne ganz abriegeln würden, spricht der französische Kollege Eric Coulet aus der Seele. In der Carmarque, so der Leiter des dortigen Parks, gelten zwei Gesetze: Alles ist verboten, nichts ist erlaubt.

Ganz so weit wollen andere Park- Manager nicht gehen. „Seit Jahren kämpfen wir darum, daß sich die Leute für die Natur interessieren“, faßt Tagungsleiter Ribaut die Stimmen der Gegenseite zusammen, „kommen sie endlich, will man sie wieder ausschließen.“ Sie versprechen sich durchaus positive Rückwirkungen des Tourismus auf die Ökologie — beispielsweise durch mehr politischen Druck. Der Peak- Nationalpark, im Dreieck zwischen den englischen Metropolen London, Liverpool und Manchester gelegen, ist mit 20 Millionen Besuchern im Jahr das meistfrequentierteste Reservat der Welt. Die Natur könne nur gewinnen, so die englischen Vertreter, wenn man die Besucher mit Informationen sensibilisiere. Statt Naturschutzgebiet also mehr Freizeitpark, wo die Touristenschwärme Eintritt bezahlen und kundig herumgeführt werden? „Was nichts kostet, ist in den Augen der Menschen nichts wert“, sagen die Protagonisten eines solchen Modells, außerdem lasse sich damit die „ökonomische Kraft des Tourismus“ nutzen. Für Länder und Regionen, die größtenteils vom Fremdenverkehr leben, sind derartige Naturschätze lukrativ.

Dies gilt besonders für die osteuropäischen Länder, die über riesige, noch weitgehend unberührte Naturräume verfügen. Der ungarische Nationalpark an der Donau etwa umfaßt 600.000 Hektar eines der ökologisch wertvollsten Mündungsdeltas; der polnische Bialowieza-Urwald ist mit rund 50.000 Hektar eines der größten europäischen Waldmassive ohne menschliche Eingriffe. Die Vertreter aus den osteuropäischen Ländern, die erstmals an einer derartigen Tagung teilnahmen, befürchten bereits das Schlimmste, denn was zum Schutz der Natur dort fehlt, ist das Geld. Eine rasche Industrialisierung, auch im Tourismusbereich, würde zwar dieses ökonomische Probleme angehen, aber die natürlichen Ressourcen um so stärker bedrohen. Natur und Ökonomie sind unerbittliche Kontrahenten.