"Realität und Poesie müssen kein Gegensatz sein"

■ Eberhard Fechner, der Schauspieler, Dokumentarist, Regisseur und Buchautor, wird kommenden Montag 65 Jahre alt

FLIMMERN UND RAUSCHENSAMSTAG, 19.10.91

„Realität und Poesie müssen kein Gegensatz sein“ Eberhard Fechner, der Schauspieler, Dokumentarist, Regisseur und Buchautor, wird kommenden Montag 65 Jahre alt

Von Christine Böer

„Meine Mutter, mein Lehrer und Giorgio Strehler sind die drei Personen, die mich geprägt haben. Strehler hat damals mein Weltbild verändert. Was ich kann, kann ich durch ihn. Den größten Einfluß auf mich hat meine Frau Jannet. Wir wachsen seit 27 Jahren zusammen und haben einen ständigen Gedankenaustausch.“

Eberhard Fechner, in Cordhosen und Pullover, scheint eher zu den erdgebundenen Kastanienbäumen auf der Straße vor dem Haus zu passen als zu den elfenbeinfarbenen Möbeln in seiner frisch ausgemalten noblen Wohnung im Hamburger Eppendorf. Vorn steht ihm das Haar widerspenstig ab, „denn ich hab' da nur Wirbel, zum Kummer jedes einigermaßen ehrgeizigen Friseurs“, und an der Seite recken sich seine Antennen, die Ohren, mit denen er Lebensgeschichten angehört hat, die der Menschenkenner aus den Zeitgenossen hervorholte. Die Wirbel im Haar geben Aufschluß über den Charakter. Sie setzen sich gewissermaßen unter der Haut fort. Er sei von krankhafter Ungeduld, sagt Fechner, die er nicht bekämpfen könne. Und wütend werde er, wenn er auf bequeme Beamtentypen trifft, „die ihren Beruf schwänzen“.

Eberhard Fechner hat den Beruf nicht geschwänzt, aber gewechselt. Als Schauspieler schulte der Neugierige in über 200 Rollen die Fähigkeit, sich in den Mitmenschen hineinzuversetzen. Außerdem schärfte das Theaterspiel Fechners Sinn für den Dialog. Als Dokumentarist begann er, sich ein eigenes Genre im filmischen Bereich zu schaffen. Mit einer Untersuchung über jugendliche Kaufhausdiebe unter dem Titel Selbstbedienung fing er 1965 an. Dann kam 1969 der Auftrag vom NDR, eine Dokumentation über den Freitod eines Menschen zu machen. Die Nachrede auf Klara Heydebreck wurde zu einem bestürzenden Zeugnis für menschliches Nebeneinanderherleben, das den Menschen, besonders den älteren in der Großstadt, vom Menschen entfremdet. Fechner entwickelte seine eigene Methode des Auffächerns: aus Berichten, Notizen, Tonband- und Filmaufnahmen montierte er ein Drehbuch, reduzierte am Schneidetisch durch Schnitte und Gegenschnitte, setzte auf diese Weise ein eigenes Puzzle mit authentischen Versatzstücken zusammen und destillierte das Besondere aus dem Alltäglichen heraus. Diese Technik der „Erzählfilme“ vervollkommnet Fechner laufend weiter: Unter Denkmalschutz, Klassenphoto, Comedian Harmonists oder die Verfilmung des Kempowski-Romans Tadellöser und Wolf stehen für seinen neuen assoziativen Stil. Fechners These ist: „Realität und Poesie müssen keine Gegensätze sein.“ Mit La Paloma gelang ihm dann eine einmalige Recherche über den aussterbenden Beruf des Seemannes, und mit Wolfskinder packte er das bis dahin tabuisierte Flüchtlingsthema an.

Für Fechner ist das 20. Jahrhundert ein Jahrhundert der Vertreibungen und Völkerwanderungen, da existiert ein Bedarf an Feindbildern. „Da sind jetzt die Asylanten dran“, sagt Fechner, „in Hoyerswerda wurden wie ehedem Minderwertigkeitskomplexe gegen Minderheiten abreagiert.“ Für Fechner gleicht das reiche Europa mehr und mehr einer befestigten Stadt, in der jeder, der hereinkommen will, in Gefahr ist, entweder

ausge-

nutzt

oder gekillt zu werden. Doch

der Dokumentarist resigniert nicht; er glaubt, daß es Möglichkeiten gegen Intoleranz geben muß, die wir nur noch nicht gefunden haben: Wege gegen die Sucht, ein inneres Feindbild aufzubauen. „Wir müssen den Anfängen wehren; die ewig Gestrigen daran hindern, eigene negative Eigenschaften in einen ,Gegner‘ zu projizieren“, meint Fechner. Für den Verhaltensforscher unterscheidet sich der Mensch „von anderen Tieren“ durch eine potentielle Fürchterlichkeit, aber auch durch die Fähigkeit, „göttlich“ zu sein. Unter „göttlich“ versteht er die Eigenschaft, etwas verschenken zu können, was über menschliches Maß hinausgeht. Bei Mozart fühlt sich Fechner besonders beschenkt. Tschechow und Fontane sind ihm Vorbilder für seine Arbeit.

Von 1975 bis 1981 fand in Düsseldorf der Majdanek-Prozeß statt, bei dem 15 ehemalige KZ-AufseherInnen angeklagt waren. Hans Brecht vom Norddeutschen Rundfunk beauftragte Fechner damals mit der Dokumentation dieses letzten größeren NS-Prozesses. Im Gerichtssaal registrierte der Psychologe Fechner: „Spricht ein Mensch durch das Mikrofon — im Düsseldorfer

Ober-

landesge-

richt gab es

diesen

Saal

so

groß wie ein Theater —, merkt man genau, wann er lügt. Es ist so, als betrachte man ein Objekt unter einem

Ver-

größerungsglas.“ Fechner nahm die Spurensuche außerhalb des Gerichtes auf: Er brachte die Zeugen und Angkelagten in ihrem privaten Milieu dazu, ihm ihre Lebensgeschichte ein oder mehrere Male zu erzählen. Diese Form der kontinuierlichen Erinnerung offenbarte Zusammenhänge und Details, die in Jahren des Schweigens verdrängt worden waren. Fechner: „Ich mache ja keine Interviews, ich führe Gespräche.“ 220 Stunden Aufnahmen „dampfte“ Fechner dann am Schneidetisch zu einem 41/2-Stunden-Film „ein“, ein Extrakt, der uns allen gewissermaßen den Prozeß macht. Mit seiner Technik der Montage inszenierte der Meister des Mosaiks imaginäre Dialoge zwischen Tätern und Opfern. Als eine der erschütterndsten Erkenntnisse bei dieser Arbeit wertet Fechner, daß ihm aufgegangen sei, die Täter waren nicht

irgendwelche Monster, sondern Menschen wie du und ich; ja, noch beklemmender: „Wenn man den Ton abdrehte, konnte man die Gesichter von Tätern und Opfern kaum unterscheiden.“

In den Protokollen Fechners wird vor allem auch eine Phantasielosigkeit der Täter sichtbar, eine völlige Stumpfheit gegenüber dem anderen, und die nicht minder bewegende Tatsache, daß auf der anderen Seite die Opfer, überlebende Zeugen, sich noch heute Vorwürfe machen, ausgerechnet dem Inferno entkommen zu sein. Jeder, der die Rätsel der Normalität erforschen will, wird dazu verurteilt, in den Spiegel zu blicken (Enzensberger).

Einen solchen zeitgeschichtlichen Spiegel aus Tausenden von Splittern zusammengefügt zu haben, ist das Verdienst des Chronisten Fechner. Er hat Reisen in die Abgründe der menschlichen Seele gemacht und ist in vielen Häuten „spazierengegangen“. Er hat auch andere Länder gesehen, „in einer Zeit, als man in Spanien, Frankreich oder Griechenland den Tourismus noch nicht kannte und in dem Fremden noch einen willkommenen Gast sah“.

Mit Wehmut erinnert er sich an Kreta, als er in einem kleinen Ort einen Wirt kannte, bei dem selbst der Onassis oder die Callas als Mensch unter Menschen nicht auffielen. „Mein Bedürfnis nach dementsprechenden Urlauben ist gedeckt. Es gibt heute für mich kein Außerhalb meiner Arbeit mehr“, sagt der besessene Mahner und Macher.