Das Theater als hysterische Anstalt

Werner Schroeter inszeniert Strindbergs „Totentanz“ in Düsseldorf  ■ Von Gerhard Preußer

Die Hölle? Das ist die Ehe. „Ehehölle“, das ist schon eine fest Wortverbindung. Die Zweierbeziehung ist die instabilste aller denkbaren sozialen Beziehungen. Ob Himmel oder Hölle, ist nur eine Frage der Zeit. Seit der Liebeserlösungsglaube zur diesseitigen Religion geworden ist, ist auch die ewige Verdammnis innerweltlich. Dem irdischen Kleinparadies der Zweisamkeit entspricht die Diesseitsschrumpfhölle. Die unauflösliche Verbindung von Liebe und Haß und das Leiden an dieser Paradoxie ist Thema der Literatur seit Sappho und Catull, aber seit Strindberg ist Haßliebe ein Synonym für Ehe.

Die Ehe ist eine paradoxe Institution: Man kommt schwer heraus, und wer es geschafft hat, will wieder hinein. Ihr realer Verfall geht einher mit der Aufwertung ihres Ideals. Strindbergs Totentanz ist das Bühnenmodell für diesen gesellschaftlichen Zustand und das Vorbild aller Bühneneheschlachten von O'Neill über Beckett bis Albee und Walser.

In der Düsseldorfer Aufführung sitzen wir alle mit Edgar und Alice, den Veteranen eines Ehekrieges, der fast schon der Dreißigjährige ist, in einem Boot. Alberte Barsacq, die Bühnenbildnerin, hat die Riesenhöhle des Zuschauerraums im Großen Haus bis auf die Bühne verlängert und Luken ohne Ausblick auf der Bühnenrückwand angebracht. Wir sind im Schiffsbauch eines Ozeanriesen. Die Bühne ist zugleich das Achterdeck des Ehedampfers, eine Reling kreist sie ein. Und natürlich ist der Boden schief, auf dem die Seeschlacht tobt. Doch was zunächst nur schmuddelig grauer Alltagsboden schien, zeigt sich gelegentlich bei richtiger Beleuchtung als Strandidylle: brauner Sand, weiße Brandung, blaugrünes Meer, sanft bewölkter Himmel. Auf diesem abschüssigen Kampfplatz steht als einziges bürgerliches Wohnzimmerrequisit ein Flügel unbenutzt herum.

Als Vorspiel zeigt uns Werner Schroeter, der Regisseur, einen schmalen Ausschnitt. Der eiserne Vorhang hängt noch tief, und wir sehen ein tanzendes Paar vom Unterleib abwärts nur, eine quasi subamerikanische Einstellung. Dazu erklingt, italienisch verfremdet, eine Arie aus dem Rosenkavalier. Köpfe spielen in dieser Inszenierung keine Rolle, nur Körper und ganz besonders Füße.

Edgar, der Kapitän und Festungskommandant auf einer Schäreninsel, und Alice, seine Frau, eine ehemalige Schauspielerin, gehen sich an die Wäsche, aber ihre Griffe im Körperclinch sind eher sportlich als erotisch: zwei routinierte Freistilringer. Sie spielen Karten miteinander, als wäre jedes Blatt eine Ohrfeige. Der Zweikampf wird erst spannend, als es um einen Dritten geht. Kurt, der ahnungslose Cousin, fällt den beiden in die Hände. Und die fallen, so will es Schroeters manirierter Körpersprachstil, über seine Füße her. Alice massiert, streichelt, leckt, puhlt und poliert ihm seine Zehen und seine Fußsohle. Edgar gibt nicht auf im Wettbewerb um Kurt und greift sich den anderen Fuß, knetet und walkt ihn zur Begrüßung. Die beiden Gastgeber stehen auf, Fuß in Hand, und der bedauernswerte Gast wackelt auf den Händen hinterher: Begrüßungsrituale eines fremden Stammes.

Strindbergs Fußfetischismus ist tatsächlich im Stücktext selbst präsent. Später wird Kurts größter Liebesbeweis ein Kuß auf Alices Fuß sein, so will es Strindberg, und Schroeter hat seine Freude dran. Als Alice am Ende nach Edgars Tod endlich erlöst ist, ergreift sie in Düsseldorf als Ausdruck höchsten Glücks den eigenen Fuß und leckt ihn rein.

Für Schroeter ist Schauspiel nicht mehr als unvollkommene Oper. Wenn Alice uns ihr Leid klagen will über die Kerkerhaft ihrer Ehe, geht sie in die Bühnenmitte, setzt sich aufrecht auf den Boden, drapiert ihren Rock um sich herum, legt die Hände ineinander, hält sie vor sich — und fängt doch nicht an zu singen. Dafür wird ihre Sprecharie durch mild atonales Geklimper und Gefiedel aus dem Hintergrund begleitet. Hier gibt es keinen Dialog, nur Körperkampf und Rezitativ und Arie. Schroeter hört kein Wort und auch keine Stille, für ihn gibt's nur Musik und Leiber. Schroeter gibt immer vor, große Oper zu inszenieren, und kann uns doch nur ein flaues Melodrama bieten.

Totentanz ist ein schnelles Stück. Der Ablauf von Intrigen wird gar nicht erst gezeigt, nur ihre Resultate werden präsentiert als Waffen im Eheduell. Und doch schreibt Strindberg immer wieder vor: „Pause“, „Schweigen“. Schroeter beschleunigt das Stück noch mehr und ebnet alle Tempounterschiede ein.

Schroeter trifft Strindberg, das ist die Begegnung zweier Hysteriker. Doch die potenzierte männliche Hysterie findet auf der Bühne nur eine ebenbürtige Partnerin: Eva Schuckardt als Alice. Ihr gelingt es, die rasende Monotonie, das Resultat dieser hysterischen Inzucht, zu durchbrechen. Sie schiebt zwischen ihre hochdramatischen Ausbrüche auch Töne von plumper Banalität ein. Auf Kurts Frage, ob Edgar bösartig sei, antwortet sie statt mit einem schlichten „Ja“ mit einem Raubtierlaut: „Üjaoh“. Wenn sie dann später halb wahnsinnig schon Stimmen hört, stößt sie Möwenschreie aus wie die Koloraturen einer irren Operndiva. Sie spielt zum Todestanz für Edgar nicht auf dem Klavier, wie es bei Strindberg steht, sondern auf ihrem eigenen Körper. Sie stapft und stöhnt heiser mit hochgehobenen Röcken und offenem Mieder vor Edgar her, reizt ihn auf zum Tanz mit einem wilden Stammesritual aus dem inneren Afrika des Unbewußten — bis er fällt. Nur ihr gelingt der Tanz auf dem Hochseil der artifiziellen Hysterie, ohne in leere Hektik abzustürzen.

Ernst Alisch als Edgar dagegen stiefelt ungerührt als steifer Bösewicht durch das Stück, ein Vampir mit Genickstarre. Daß er der erfolgreichere Intrigant ist, schließlich demütigt er nicht nur seine Frau, sondern richtet seinen Freund zu Grunde und bereichert sich dabei, bleibt hier unerklärlich.

Schroeters Eiltempo ermöglicht es, auch den seltener gespielten zweiten Teil des Stücks noch in den kurzen Abend zu integrieren. Doch zeigt sich hier nur wenig Neues. Die junge Generation, Alices Tochter Judith und Kurts Sohn Allan, spielen dieselben Spiele wie die Alten, nur schlechter. Die innigste Umarmung ist die in verkehrter Lage: Mund an Schuh, Schuh an Mund. Nun wird noch deutlicher: In der Oper wird man für konventionell schematisierte Schauspielerei entschädigt durch Musik, doch schlechte Schauspielerei wird durch Musikbegleitung noch lange nicht zur Oper.

Am Ende, als Edgar nun endgültig vom Schlag getroffen nicht mehr sprechen kann, wirft er Alice einen Handkuß zu, bevor er sie anspuckt. Haßliebe noch mit der letzten Geste, dann wird er weggeschleift, und Alice kann ihn endlich lieben. Liebe ohne Haß ist erst möglich, wenn der andere tot ist. Es folgt ein ironischer Abgesang auf Strindbergs absurd versöhnlichen Schluß. Wir hören die Alt-Arie aus Bachs Kantate Widerstehe doch der Sünde, sonst ergreifet dich ihr Gift. Damit schickt Schroeter das Düsseldorfer Bürgertum heim in die Hölle des ehelichen Doppelbetts.

August Strindberg: Totentanz , Regie: Werner Schroeter, Ausstattung: Alberte Barsacq, Musik: Maria Koval. Mit Eva Schuckardt, Ernst Alisch, Düsseldorfer Schauspielhaus (Großes Haus)

Weitere Vorstellungen: 22., 26. und 27.10.