Schatten sind nicht einfach dunkel

Sieben Schattenpuppenspieler aus Andhra Pradesch auf Tournee  ■ Von Lilli Thurn und Taxis

Sieben Schattenpuppenspieler, sieben von vierhundert indischen Künstlern, die sich im Rahmen des Indienfestivals auf die Reise ins ferne Deutschland machen. Aus dem kleinen Dorf Madhavapatanam, aus dem tropischen Südindien ins kalte nebelige Dresden. Verloren scheinen die sieben (zwei Frauen und fünf Männer) — zierliche Gestalten in dicke wollene Mäntel gehüllt, darüber große Tücher geschlungen. Sie stehen im bräunlich trüben Licht der Straßenbeleuchtung vor dem Puppentheater, warten auf den Bus, der sie ins Hotel bringen soll. Gerade wurden sie von dem Direktor des Etablissements „mit den angegammelten Wänden“, wie der beflissene Theatervorstand sein Haus wenig liebevoll umschreibt, verabschiedet: „Die freundliche Aufnahme unserer indischen Gäste sehe ich als Zeichen, daß in unserer Stadt nicht die Dummheit siegt, sondern daß Dresden offen bleibt für alle Welt.“ Große Worte, zeitkritisch und sehr deutsch. Wie schade, daß „unsere indischen Freunde“ von all dem nichts verstanden haben, gar nichts verstehen konnten. Niemand hatte übersetzt, denn die eigens engagierte Übersetzerin spricht kein Tilugu, den Dialekt unserer Puppenspielerfamilie, und die Puppenspielerfamilie spricht wiederum kein Hindi. Vielleicht interessieren sich die sieben auch nicht wirklich für große schöne Worte eines Dresdner Puppentheaterdirektors.

Wer die sieben da so stehen sieht, würde wohl kaum auf die Idee kommen, daß es sich hier um die Nimmalakunta Puppetgroup, immerhin Indiens berühmteste Schattentheater- Puppenspieler handelt. Starkult und Fanclubs scheinen sie nicht zu kennen — vielleicht sollte sich André Heller einmal der Truppe annehmen, um ihrem Auftreten Zauber und Glamour zu verleihen.

In ihrer Heimat ziehen sie vor allem in den Frühlingsmonaten, den Geburtstag der Gottheit Schiwa zu feiern, von Dorf zu Dorf, installieren ihre Schattenbühne auf dem Dorfplatz, um dann, wenn es Nacht wird, die Puppen tanzen zu lassen. Die Geschichte, das hinduistische Ramayana-Epos, ist immer die gleiche. Sie handelt von den Abenteuern, die der göttliche Held Rama bestehen muß, um Sita, sein angetrautes Weib, aus den Fängen des zehnköpfigen Dämonenkönigs zu befreien. Aktuelles, Klatsch und Tratsch, politische Satire und Anekdoten werden eingeflochten, keine Aufführung ist wie die andere. Diese frühe Form von Dorfkino existiert in Andhra Pradesch bereits seit dem dritten Jahrhundert vor Christus (da saßen die Vorfahren unseres Direktors — der einführend damit kokettierte, wie wenig, nämlich nichts, er über Indien wisse — noch lange auf den Bäumen). „Tholu Bommalata“, der Tanz der Lederpuppen, hat heute, nach über 2.000 Jahren, starke Konkurrenz bekommen: Kino, Video und Fernsehen. Das Publikum sitzt in den Videobars, die Puppenspieler spielen vor leeren Plätzen. Ihr Hauptauftraggeber ist inzwischen die indische Regierung, die ihre Familienplanungsprogramme der ländlichen Bevölkerung verklickern will. Schattenspiel mit erzieherischem Auftrag.

Die sieben der Nimmalakunta Puppetgroup gelten als besonders kunstvolle Spieler. Ihre Puppen sind die größten, manche davon über zwei Meter hoch. Diese riesigen Figuren zum Leben zu erwecken, die zum Teil von mehreren Personen mit Bambusstäben geführt werden müssen, erfordert große Geschicklichkeit. Damit sich die Schatten auf der drei mal vier Meter großen durchscheinenden, im Hintergrund von Öllampen illuminierten Leinwand besonders gut abzeichnen, drücken die Spieler die Puppen leicht dagegen. Bewegen sich die Puppen, respektive Kopf, Arme und Beine der Puppen — der Rumpf bleibt immer gegen die Leinwand gedrückt — geraten die bewegten Teile in den Unschärfebereich. In dem dauernden Wechsel von scharfen und verschwimmenden Umrissen liegt die unnachahmlich phantastische Wirkung des Schattenspiels.

Die Spieler sind Allround-Talente. Sie führen nicht nur die Puppen, sie sprechen und singen dazu, sorgen für die entsprechende Geräuschkulisse wie Donner, Sturm und Kampfgetöse. Mit Trommel, Becken und Harmonium sind sie auch noch für die musikalische Untermalung zuständig. Doch damit nicht genug, sie fertigen auch ihre Puppen nach alten Vorlagen selbst. Auf hauchdünnem Ziegenleder werden die einzelnen Glieder der Figuren aufgezeichnet, ausgeschnitten und mit Pflanzenfarben entsprechend dem Farbschema der traditionellen Ikonographie gefärbt. Rot- und Grauschattierungen dominieren. Eigentlich ist der Ausdruck „Schattentheater“ mißverständlich, da Schatten immer als dunkel assoziiert werden. Die Puppenschatten sind bunt, die Farben leuchten auf der fast durchsichtigen Leinwand. Die Körperteile werden dann kunstvoll perforiert, um Verzierungen und Schmuck anzudeuten. Erst wenn die einzelnen Teile zusammengesetzt sind — dabei werden Schulter-, Ellbogen-, Fuß- und Kniegelenke beweglich gehalten —, dürfen die Augen aufgemalt werden. Damit erwachen nach altem Glauben die Puppen zum Leben. Die „Guten“ und die „Bösen“, die Figuren des Heldenepos sind streng polarisiert, müssen in gesonderten Körben aufbewahrt werden.

Wie man sieht, sind unsere sieben wahre Künstler. Das Publikum — die Vorstellungen in Dresden waren ausverkauft — faszinierte das fremde Schauspiel, wenn es auch, trotz des deutschsprechenden Erzählers, schwierig war, den turbulenten Geschehnissen auf der Schattenleinwand zu folgen. Um so erstaunlicher, wie wenig Beachtung der die Tournee begleitende Vertreter der indischen Regierung der Leistung der sieben Puppenspieler zukommen ließ. Waren es Klassen- respektive Kastenunterschiede, die ihn veranlaßten, die sieben mit derartiger Verachtung zu strafen, oder ist das Schattenpuppenspiel für den gebildeten Inder so etwas wie für manchen Leser dieser Zeitung das „Ohnesorg- Theater“? Das wollte der freundliche Herr nicht verraten.

Das „Tholu Bommalata“-Schattentheater ist auf Tournee: 20.10. Stuttgart, 21.10. Schwäbisch- Hall, 25.10. Nürnberg, 27.10. Hamburg, 28.10. Bremen, 29.10. Hannover, 30.10. Bielefeld, 31.10. Düsseldorf.