Lenins Erben gründen Wirtschaftsunion

■ Mit der gestrigen Unterzeichnung eines Vertrages über eine Wirtschaftsgemeinschaft ist die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) auch de jure beerdigt worden. Die Wirtschaftsunion...

Lenins Erben gründen Wirtschaftsunion Mit der gestrigen Unterzeichnung eines Vertrages über eine Wirtschaftsgemeinschaft ist die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) auch de jure beerdigt worden. Die Wirtschaftsunion tritt die Rechtsnachfolge des ursprünglich aus 16 Republiken bestehenden Sowjetstaates an. Von den zehn Republiken, die ihr beitreten wollten, ist die Ukraine im letzten Moment noch abgesprungen. Ein harter Schlag für Gorbatschow.

Der neuen Wirtschaftsunion, Rechtsnachfolgerin der in die Brüche gegangenen UdSSR, droht der Tod im Kindbett. Bei der feierlichen Unterzeichnung des Vertrags im St.-Georg-Saal des Kreml stand der Vertreter einer Republik abseits, ohne die an eine Fortsetzung der Sowjetunion mit anderen Mitteln kaum zu denken ist: die Ukraine. 24 Stunden vor dem Staatsakt kam das definitive Nein, dem sich allerdings ein „Vielleicht doch“ anschloß. Wolodimir Wriniw, stellvertretender Parlamentspräsident, erklärte in Kiew: „Der Vertrag ist sehr gefährlich für uns, weil er die zentralen sowjetischen Strukturen wiederbelebt. Dem können wir nicht zustimmen. Die Ukraine verlöre durch ihre Zustimmung fundamentale Rechte, die jedem Staat zustehen: die Kontrolle über den Staatshaushalt und die Steuern, den Schutz der eigenen Währung, das Recht, eine eigene Zentralbank zu errichten.“ Iwan Pljutsch, ein anderer Präsidentenvize und Führer der ukrainischen Verhandlungsdelegation, monierte, es gäbe in dem Vertragsentwurf keinen einzigen Artikel, der klipp und klar sage, was die Ukraine in das Unternehmen hineinstecken und was sie herausbekommen würde. Pljutsch und sein Chef, der Parlamentspräsident Krwtschuk, betonten allerdings ihre Dialogbereitschaft und ließen damit ein Hintertürchen für einen späteren Beitritt offen. „Wir sind“, so Pljutsch etwas rätselhaft, „für einen einheitlichen Wirtschaftsraum, aber gegen einen einzigen Markt.“

Genau dieser Art von Politik möchten die starken Männer der Russichen Föderation vorbeugen. „Manche Leute“, sagte der russiche Vizepräsident und „Volksheld“ Rudskoi, „glauben, daß Demokratie die Herrschaft der Beliebigkeit bedeute. Dem ist nicht so. Demokratie ist die Herrschaft des Rechts.“ Und er fügte drohend hinzu: „Ich weiß nicht, ob die Ukraine ohne Rußland überleben wird. Sicher ist hingegen, daß Rußland ohne die Ukraine überleben wird.“ In dem Wirtschaftsvertrag wird Einstimmigkeit bei Aufnahmeanträgen neuer Mitglieder vorgeschrieben sein. In der Nacht zum Freitag hatten Jelzin und Gorbatschow ein letztes Mal den Entwurf revidiert. Die Russische Föderation wollte sicherstellen, daß das künftige Budget für die Gemeinschaftsaufgaben und Sonderfonds der strikten Kontrolle der Republiken unterliegt. Das gleiche sollte auch für die neu einzurichtende Zentralbank, also für die Emission von Banknoten, die Bestimmung des Zinssatzes, die Festlegung einer künftigen Mindestreserve etc., gelten. Jelzin setzte sich auch mit der Forderung durch, dem „sterbenden Zentrum“ den Todesstoß zu versetzen. Die noch bestehenden zentralen Ministerien samt nachgeordneten Behörden werden vollständig abgeholzt. Trübe Aussichten für mehrere 100.000 Kostgänger der Nomenklatur. Die Absage der Ukraine kam zu einem Zeitpunkt, zu dem eine Reihe von Kritikpunkten am Entwurf bereits ausgeräumt waren. Das in Bangkok bekannt gewordene Dokument gibt den Republiken die Möglichkeit eigener Währungen und damit eigener Nationalbanken. Gefordert ist allerdings eine einvernehmliche Abstimmung des Kurses zum Rubel. Entsprechend war aus Rußland zu hören, man werde bald eine eigene Währung haben, schon zu Beginn des nächsten Jahres soll der Rubel auf dem Gebiet der Föderation mit der blau-weiß-roten russischen Fahne überdruckt werden. In einem Parforce-Ritt kündigte Jelzin überdies an, man werde jetzt die Löhne und Preise freigeben.

Für Gorbatschow — und nicht nur für ihn — ist ein Fernbleiben der Ukraine von der Union gleichbedeutend mit deren Scheitern. Kann die Ukraine dieses Risiko eingehen?

Was sind die Motive der ukrainischen Führung, sind sie rational nachvollziehbar? Zieht man einmal die nationale Rhetorik „Wir müssen die historische Chance ergreifen. Wir müssen uns erst als Staat konsolidieren“ ab, so bleibt ein hartes ökonomisches Kalkül.Die Ukraine produziert ein Viertel der sowjetischen Nahrungsmittel, ein Viertel der Kohle, ein Drittel des Stahls und die Hälfte des Eisenerzes. Ihr Güteraustausch mit den anderen Republiken ist, gemessen in bereinigten Preisen, ausgeglichen. Für Maschinenimporte müßte eine selbständige Ukraine weniger Devisen aufwenden als bisher, ihre Exporte jedoch hätten — vor allem in Ostmitteleuropa — gute Absatzchancen. Diesen positiven Faktoren steht allerdings eine katastrophale Infrastruktur gegenüber: ein veralterter Maschinenpark und die rasch fortschreitende Zerstörung der Schwarz- und Braunerdeböden. Die Ukraine ist potentiell reich, gegenwärtig und auf absehbare Zukunft aber bettelarm. An dieser Lage würde auch die „Abkoppelung“ nichts ändern. Trugschlüssig ist insbesondere der Glaube, ein eigenes Währungs- und Bankensystem würde ausländische Investoren anlocken. Die Ukraine hat allen Grund, dem Finanzgebaren der Zentrale zu mißtrauen und einzelne Regelungen, wie die Aufteilung der Schuldenlast, in Zweifel zu ziehen. Aber wenn die Präsidentenwahlen Anfang Dezember ausgestanden sind, wird man notgedrungen bei der neuen Wirtschaftsunion anklopfen. Nur, daß dann zwei weitere Monate sich vertiefender Misere auf dem geschundenen Land lasten. Christian Semler