Berlin, durch den Tango betrachtet

■ Jorge Aravena, »Tango-Philosoph«, Sänger, Dozent und Erfinder des »Kreuzberg-Tangos«, zeigt, daß diese Musik nicht nur mit dem Hintergrund der Nächte und Tage von Buenos Aires entstehen kann

Berlin liegt mehr als 12.000 Kilometer entfernt von Buenos Aires. Für Jorge Aravena ist zumindest die kulturelle Distanz zwischen Kreuzberg und dem Rio de la Plata wesentlich geringer. Der argentinische Tango- Sänger und Komponist hat derart viel Gemeinsames zwischen seiner Heimatstadt und dem spektakulärsten Berliner Bezirk entdeckt, daß daraus ein neues »multikulturelles Kind« entstand: der »Kreuzberg-Tango«.

In seinen Texten beschreibt Jorge Aravena, was er hier sah und was ihn faszinierte: den Türkenmarkt, die Mauer, den Winter in Kreuzberg, das Schicksal der Ausländer. Ob er auf dem Kreuzberger Friedhof Zwiesprache hält mit Iffland, Schering und Mendelssohn-Bartholdy oder den »Spiegel meiner Einsamkeit«, die Kreuzberger Kneipe, besingt — es entsteht ein fremdartiges, aufrichtig pathetisch wirkendes Bild von Berlin.

Vom Diktum Borges', »daß man ohne die Abende und Nächte von Buenos Aires keinen Tango schreiben kann«, hält Aravena jedenfalls nichts. Für den Wahlberliner ist der Tango »eine Art, sich auszudrücken, die theoretisch jedem an jedem Ort offensteht«. Aravena lebt seit sieben Jahren hier. Er hat sich dem Tango verschrieben, und das ist kein Wunder: »Meine Mutter hat meinen Vater dadurch becirct, daß sie ihm einen Tango von Carlos Gardel vorsang. Ich verdanke dem Tango also gewissermaßen das Leben.«

Und so wirkt er an der Spree als »multimedialer tanguero«: Er singt mit der Gruppe »Sur-Tango Argentino« des Bandoneonisten Bernd Machus und hat den Männerchor »Los Gauchos« gegründet, der auf argentinische Musik spezialisiert ist; vor zwei Jahren veröffentlichte er ein Buch über seinen großen, früh verstorbenen »Kollegen«, den Tango- Kultstar und argentinischen Nationalheiligen Gardel; als Dozent am Lateinamerika-Institut und an der Volkshochschule hält er Seminare ab, in denen er mit Vorträgen, aber auch durch Gesang, Tanzunterricht und eigene Fotos etwas von der Vielfalt der »Tango-Kultur« vermitteln will.

Nicht zuletzt aber ist Jorge Aravena »Tango-Philosoph«. Die Deutschen hätten schon seit der ersten Tangowelle, die in den zwanziger Jahren über Europa schwappte, ein besonderes Verhältnis zum Tango, der »Weltmusik der Unbehausten«, meint Aravena. »Natürlich war der europäische Tango damals >zivilisierter< als das argentinische Original. Dennoch: in all den Tango-Schlagern, Tänzen und Filmen konnte sich damals die ganze Atmosphäre des Scheiterns und der Traurigkeit ausdrücken; Melancholie steckte darin ebenso wie der Wunsch, sich zu berühren und zusammengehörig zu fühlen.«

Es sei kein Wunder, wenn sich besonders die Deutschen mit dem Tango identifizierten, schließlich hätten sie bei seiner Entwicklung sehr aktiv mitgewirkt: der Tango- Tanz sei in seinem Ursprung der Polka und dem Walzer verwandt. Das Tango-Instrument Bandoneon habe ein Deutscher erfunden.

»Einige der ersten Tangos, die Ende des vergangenen Jahrhunderts geschaffen wurden, schrieb ein Deutscher. Und Astor Piazzolla hat sich nicht umsonst bei seinen Kompositionen von deutschen Klassikern wie Johannes Brahms inspirieren lassen.«

Berlin ist gewissermaßen eine europäische Metropole des Tango Argentino geworden — nirgendwo sonst gibt es eine derart große Anzahl von Tango-Schulen, Tango-Musikern und Tänzern. Angefangen hat alles 1982, als während des Horizonte-Festivals die Ausstellung Tango — Melancholie der Vorstadt organisiert wurde. Aravena beobachtet die Berliner Tangoszene mit einer gehörigen Portion Ironie. Heutzutage sei die Beschäftigung mit dem Tango wohl so eine Art Therapie für zivilisationsmüde Europäer. Die Berliner Tango-Tänzerinnen hat Aravena denn auch in seinem Tango Las tangueras de Berlin auf wenig schmeichelhafte Weise verewigt:

»Die Schönheit ihres Körpers verschenken sie ohne Gefühl. Sie befriedigen ihre Haut. Die Musik ist fern vom Rhythmus ihrer Füße.«

Doch es sei nicht allein die Schuld der Frauen. Viele Tänzerinnen könnten den Tango auch »mit ihrer Seele« tanzen, wenn ihre Partner nicht zu ängstlich oder egoistisch wären. Allzuviel Ehrgeiz schade jedenfalls, meint Aravena, und zwar nicht nur beim Tango: »Wenn man zuviel über das nachdenkt, was man gerade tut, dann ist man schon nicht mehr richtig dabei.« Peter Tomuscheit

P.S. Jorge Aravena ist übrigens auch Fotograf, der sich auf Portraits lateinamerikanischer Dichter spezialisiert hat. Bis zum Ende des Monats ist im Ibero-amerikanischen Institut eine Ausstellung mit Fotos ecuadorianischer Schriftsteller von Jorge Aravena zu sehen.